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Der Diktator in mir

Über innere Maßlosigkeit und zivilisierte Verachtung in Krisenzeiten.

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Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe Februar 2022

Die zivilisatorische Decke ist dünn, heißt es oft, wenn uns das Verhalten unserer Mitmenschen missfällt. Das klingt wunderbar abstrakt, denn der Adressat ist eine Allgemeinheit, von der man sich leicht distanzieren kann. Nur sie trägt zur Konsistenz dieser Decke bei, nie man selbst.

Mein Beitrag wird mir jeden Samstag schmerzlich bewusst. So gegen Mittag beginnen die eigenen Gedanken so manchen Riss in dieser Decke zu vertiefen. Dann, wenn Tausende ganz normale Leute mit Rechtsextremen gegen Corona-Maßnahmen und Impfpflicht durch Wien marschieren und gemeinsam mit verurteilten Neonazis ihre Parolen rufen, Schilder in die Höhe halten, manchmal alkoholisiert, manchmal aggressiv, aber immer beseelt, ihre Grundfreiheit als Opfer einer ›Diktatur‹ und eines ›Regimes‹ leben.

Währenddessen verkriechen sich Bekannte und Freundinnen in ihren Wohnungen, um den ›Wahnsinnigen‹ auszuweichen, die Journalistinnen attackieren oder Kellner in Cafés anspucken, weil die sie auffordern, ihre Maske zu tragen. In diesen Momenten verdunkelt sich mein eigenes Verständnis von Demokratie und Freiheit. Die Vernunft meldet sich ab und das Bauchgefühl an, der innere Diktator erwacht. Individuen werden nur mehr als Mob wahrgenommen. Ein entfesselter Mob, der meine Stadt belagert. Ein irrationaler Mob, radikalisiert in einer Parallelöffentlichkeit, die nur darauf aus ist, die Mistgabeln zu polieren und sie gegen ein Ziel zu richten, egal welches.

Ja, so artikuliert sich der innere Diktator. Ohne Verständnis, ohne Empathie, ohne Umsicht. Statt nach versöhnlichen Ausfahrten zu suchen, macht sich im Kopf eine befremdliche Aug-um-Aug-Logik breit, die Maßnahmen fordert, für die sich jeder Demokrat schämen würde: Demonstrationsverbot! Sanktionen für die Teilnehmenden! Mehr Polizei! Volle Härte!

Absurd, diese Gedanken. Und gefährlich. So tickt man doch nicht. So will man nicht ticken. Nicht so irrational, so maßlos, so absolut. Dieses Denken ist doch eigentlich nur Extremisten und Fanatikern vorbehalten, oder? Doch wie den eigenen Diktator ruhigstellen, ihn auf den demokratischen Pfad zurückbringen und dafür sorgen, dass aus dem Mob wieder Individuen werden, denen mit Menschlichkeit begegnet wird?

Der verstorbene schweizerisch-israelische Philosoph und Psychoanalytiker Carlo Strenger plädierte in solchen Fällen für ›zivilisierte Verachtung‹. So bezeichnet er eine Haltung, ›aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder sogar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten. (…) Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren.‹ Wie das konkret gehen soll, erklärt er nicht.

Alternativ würde sich als Wienerin natürlich ein wenig Wiener Aktionismus anbieten, wie es die Künstlerin Stefanie Sargnagel auf Twitter vorgeschlagen hat: ›Esos in die Klangschalen scheißen!‹ Es wäre eine passende Wiener Willkommensgeste für all jene, die mit dem urbanen Raum und seinen Sitten nicht so vertraut sind. Belustigen würde eine kollektive Erleichterung à la Günter Brus den inneren Diktator allemal, unter Umständen sogar dermaßen, dass er von seinen antidemokratischen Forderungen abrückt – und die entstandenen Risse in der zivilisatorischen Decke geflickt sind. Fürs Erste, denn selbst hierzulande muss man sich eingestehen, dass Kot nicht dauerhaft der beste Kit für eine Gesellschaft ist. Bei aller aktionistischen Tradition. •

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