Brandbeschleuniger

Die Politikwissenschaftlerin Parichehr Kazemi über die Bedeutung von Bildern für die Proteste im Iran.

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Fotografie:
AFP/picturedesk.com
DATUM Ausgabe September 2023

Die junge Iranerin steht auf dem Dach eines Autos und hebt die Arme in den Himmel. Ihre Haare sind unverschleiert, sie reichen ihr bis zu den Schulterblättern. Auf der Straße vor ihr stauen sich weitere Autos, große Gruppen von Menschen haben sie bereits verlassen und gehen zu Fuß weiter. Die Straße führt nach Saqez, wo 40 Tage zuvor Mahsa Jina Amini begraben wurde. Jene Frau, die im September 2022 von der ›Sittenpolizei‹ festgenommen worden war, weil sie angeblich ihr Haar nicht richtig bedeckt hatte – und in deren Gewahrsam gestorben war.

Fotos von Amini, auf denen sie kurz vor ihrem Tod im Krankenhaus mit Schläuchen im Mund zu sehen war, lösten laut der im Iran geborenen Politikwissenschaftlerin Parichehr Kazemi vergangenes Jahr die bisher größte Welle von Protesten aus. ›Dass solche Bilder Frauen mobilisieren und auf die Straße bringen, hat im Iran lange Tradition‹, sagt sie und nennt drei Aufnahmen: 2009 den Mord an der protestierenden Neda Agha-Soltans durch einen Schuss, 2018 Vida Movahed, die ihr Kopftuch an einem Stock schwenkte, und 2022 die sterbende Mahsa Amini im Krankenbett. Alle drei hätten zu Protesten geführt, sagt Kazemi, die an der Universität von Oregon zu sozialen Bewegungen und Revolutionen forscht.

Wenn Frauen Fotos von sich machen oder fotografiert werden, richten sich die Urheber der Bilder einerseits an den liberalen Westen. In den sozialen Medien verbreitet, sollen ihre Bilder auf die Situation der Iranerinnen aufmerksam machen, sagt Kazemi. Gleichzeitig senden solche Aufnahmen auch die Nachricht an Frauen im Iran, dass sie nicht allein sind. So würden sogar 16-jährige Mädchen, die sich unverschleiert filmen, eine Art von Protest darstellen, sagt Kazemi. ›In fast jedem anderen Land wären es Mädchen, die TikTok-­Videos filmen. Im Iran ist es Widerstand.‹

Das bedeute laut Kazemi gleichzeitig, dass es keine massiven Ausschreitungen wie bei den französischen Gelbwesten oder den ›Black Lives Matter‹-Protesten in den Vereinigten Staaten braucht. Zwar würden auch im Iran gewaltgeladene Bilder entstehen, sagt Kazemi. ›Aber wenn unverschleiert oder tanzend auf die Straße zu gehen schon als Gesetzesbruch gilt, muss man keine Gebäude mehr in Brand setzen.‹

Im Iran können bereits deutlich harmlosere Protestformen mit langen Haftstrafen und im schlimmsten Fall dem Tod enden. Auf mehr als der Hälfte aller Bilder verdecken iranische Frauen deshalb ihr Gesicht. Genauso versuchen Fotografen, ihre Identität geheim zu ­halten. Auch die Frau auf dem Bild des ­Marsches zu Mahsa Aminis Grab wendet der Kamera den Rücken zu. Wer sie fotografiert hat, ist ebenfalls öffentlich nicht bekannt. 

Manche Leute würden aber keine Vorsichtsmaßnahmen mehr treffen, um ihre Identität zu verbergen, sagt Kazemi. Sie hätten mit ihrem Schicksal abgeschlossen und würden Strafe in Kauf nehmen. So verteilte eine Gruppe von Mädchen und deren Mütter am
8. März 2019, dem Internationalen Frauentag, in einer U-Bahn in Teheran Blumen. Sie alle wurden identifiziert. Eines der Mädchen bekam eine 16 Jahre lange Haftstrafe. ›Es war eine wirklich starke Tat‹, sagt Kazemi, ›der Zeitpunkt war symbolisch, und die Frauen zeigten durch das Verteilen der Blumen auch Solidarität mit anderen.‹

Aufnahmen der Unterdrückung von Frauen haben laut Kazemi aber noch eine weitere Funktion. Bilder wie das vom Marsch zu Aminis Grab würden zwar keine neuen Proteste auslösen. ›Sie sind aber deshalb wichtig, weil sie den iranischen Widerstand visualisieren und aufrechterhalten, obwohl es in einem ­autoritären System schwer ist, als Bewegung sichtbar zu bleiben.‹ •