Das sexuelle Netzwerk

Alina verdient als Online-Sexarbeiterin auf Onlyfans ein fünfstelliges Monatsgehalt. Mittlerweile hat sie sogar einen Guide dazu geschrieben. Wie funktioniert die interaktive Pornoplattform?

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Illustration:
Mariia Ustiuhova
DATUM Ausgabe Mai 2022

Seit dem Ausbruch des Coronavirus leidet Randall unter enormem Druck. Er ist leicht übergewichtig, hatte ein Alkoholproblem und verdient sein Geld irgendwo in Texas als Krankenpfleger. Mit etwa 50 Jahren ist er nach wie vor Single. Randall trägt dicke Brille mit dünnem Rahmen und kurzgeschorenes Haar. Drei Menschen aus seinem engsten Kreis hat er an Covid-19 verloren. Darunter war Randalls beste Freundin Terra, eine Frau mit blondiertem Haar und verschmitztem Grinsen. Auf einem seiner letzten Instagram-Fotos drückt sie ihr Gesicht eng an das seine. Im Text darunter schreibt er ›I love you & miss you‹.  

Bereits ein paar Monate vor ihrem Tod abonnierte Randall den Onlyfans-Account der Österreicherin Alina. Wenn Randall alles zu viel wird, vibriert ihr Handy. Meistens fragt er Alina einfach, ob sie kurz Zeit hätte, sich für ihn auszuziehen. Seit Beginn der Pandemie würden ihm die Nacktfotos der 25-Jähringen und allem voran ihre gemeinsamen Chats als Ausgleich helfen, schreibt er ihr. Randall lässt geringe Summen auf ihrem Account. Um die 15 Dollar überweist er für ein paar Aufnahmen von ihr ohne Unterwäsche. ›Zu dem Preis mache ich das eigentlich für keinen‹, sagt Alina. Aber Randall sei nun einmal von Anfang an dabei und dankbar, auch wenn sie einfach nur zuhört. 

Der texanische Krankenpfleger Randall ist einer von 170 Millionen Menschen, die Onlyfans nutzen. Nur ein Bruchteil davon lädt selbst Inhalte hoch. Vor allem seit Pandemiebeginn steigen die Benutzerzahlen der Pornoseite. Zwar erklärt die Plattform immer wieder, ein Soziales Netzwerk zu sein, seit der Gründung 2016 bezahlten User jedoch einen Großteil der rund drei Milliarden Dollar für erotische Inhalte. Was die Spenderplattform Patreon für Musiker, Youtuber oder Gamer ist, bietet Onlyfans Pornostars und Sexarbeiter. Menschen werden Fans einer Person und abonnieren ihren Kanal gegen Geld. Ein Fünftel aller Umsätze wandert zu Onlyfans. Zusätzlich können Kunden einzelne Videos und Fotos freischalten – manche davon exklusiv. Onlyfans lebt vom Versprechen, zu zeigen, was für andere versteckt bleibt. 

Es ist dieser vermeintlich intime Kontakt zwischen Online-Sexarbeitern und Abonnenten, der Onlyfans von anderen Pornoseiten unterscheidet. Hier spielen Frauen nicht nur Orgasmen, ­sondern gleichermaßen Interesse und Zuneigung vor. Ein neues Modell der ­digitalen Sexarbeit, durch das Menschen Unsummen ausgeben oder verdienen können. Alina gelang Letzteres. Ihren echten Namen will sie nicht öffentlich machen. Als Onlinesexarbeiterin sei ­Stalking eine reale Gefahr. Das sei es ihr aber wert. Rund 13.000 Euro netto nahm sie beispielsweise im Februar ein. Damit gehört sie zu einer der wenigen Onlyfans-Sexarbeitern, die mit ihrem Beruf echten Wohlstand erlangt haben. Mittlerweile kann sie ihren ­Account nicht mehr allein betreiben. Die gebürtige Oberösterreicherin beschäftigt seit Anfang des Jahres eine Freundin als Mitarbeiterin, die sie beim Management ihrer Online-Präsenz unterstützt. 

›Onlyfans, das ist mehr Bürojob als sonst etwas‹, sagt Alina. Bis sie eine Mitarbeiterin hatte, machte sie von der Produktion bis zum Verkauf alles selbst. Während die Plattform autonome Sexarbeit ohne Zuhälter ermöglicht, erweitert sie auch das Arbeitsfeld. An manchen Tagen sitzt Alina acht Stunden vor dem Laptop, bearbeitet Fotos und plant Werbekampagnen. Mittlerweile leidet sie an Rückenproblemen. ›Viele Menschen glauben, Onlyfans bedeutet, Nacktbilder machen und es Geld regnen lassen‹, sagt sie. Natürlich schießt sie Fotos und Videos von sich in aufreizenden Posen oder beim Masturbieren. Das nimmt aber nur einen kleinen Teil ihrer Arbeitszeit ein. Alle paar Wochen produziert Alina einige hundert Aufnahmen auf einmal vor. Alle in verschiedenen Posen, aus unterschiedlichen Winkeln und in anderen Outfits. Es kann also passieren, dass Käufer mit ihr chatten, während sie in der Bim sitzt. Die Aufnahmen würden trotzdem den Anschein erwecken, gerade aus dem Schlafzimmer der unscheinbaren Nachbarin von nebenan zu kommen. 

Diese vermeintliche Lebensnähe zog Kunden vor allem zu Beginn von Alinas Karriere an. Im August 2020, während des Babysittens, postete sie ihre ersten Bilder auf Onlyfans. Obszön war daran noch nichts. Nachdem alle schliefen, suchte sie alte Bikinifotos auf ihrem Smartphone, lud sie auf die Plattform und bewarb sie auf Twitter. Innerhalb von kurzer Zeit hatte sie 200 Dollar ­gemacht. Heute sei das schwieriger. ›Männer sind extrem geil darauf, wenn jemand neu ist‹, sagt Alina, ›sie wollen die ersten sein, die ein unschuldiges Mädchen nackt sehen.‹

Zuvor hatte Alina nur lose Erfahrungen mit der Cam-Girl-Plattform Chaturbate gemacht. Vor allem Frauen masturbieren dabei online und live vor Fremden und hoffen dafür auf Trinkgeld. Zahlen müssen die Zuschauer nicht. In einem Artikel las Alina darüber und probierte es aus. Teilweise saß sie Stunden vor der Kamera, ohne einen Cent zu verdienen. Bald verging ihr die Lust. Onlyfans ist im Vergleich dazu, was die Produktion des Contents betrifft, aufwandslos. Alina muss ihre Inhalte nicht in Echtzeit produzieren. Als sie von der Plattform hörte, gab sie der Online-Sexarbeit eine neue Chance und schaffte den Durchbruch. Ihren Körper dabei zum Produkt zu machen und zu vermarkten, fiel ihr nicht sonderlich schwer. ›Ich hatte Dollarzeichen in den Augen‹, erinnert sie sich.

Mit dem Einkommen aus ihrem Job als Online-Sexarbeiterin konnte Alina ihre alte WG übernehmen und mietet sie seitdem allein. Als Kind lebte sie mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung. Geld sei damals knapp gewesen. ›Meine Eltern versuchten, uns das nicht spüren zu lassen. Doch irgendwann kam dann durch, dass Geld ein Streitthema ist‹, sagt Alina. Bevor sie ihr Studium abgebrochen hatte, arbeitete sie in Kaffeehäusern und Cannabis-Growshops. Onlyfans empfindet sie als einzigen Weg zum sozialen Aufstieg. ›Mit einem gewöhnlichen Beruf könnte ich mir weder meine Wohnung, geschweige denn ein Haus leisten.‹ 

Ihren Content nur über Onlyfans zu vermarkten, würde Alina aber weder diesen Lebensstil noch ein fünfstelliges Monatseinkommen bescheren: Ohne Werbung kein Erfolg. Alina bewirbt ihren Kanal auf Twitter, Reddit, Instagram, Snapchat, Telegram, Tiktok und so weiter. Vor allem Inhalte auf der Kurzvideo-Plattform Tiktok bescherten ihr kürzlich neue Abonnenten und Käufer ihrer Inhalte. Fünf Millionen Aufrufe bekam ihr bis dato reichweitenstärkstes Video vor ein paar Wochen. ›Ich spreche darin einen erotischen Text nach‹, sagt Alina. ›Weil ich ein weibliches, süßes Gesicht habe, reicht das, um viral zu gehen.‹ 

In besagtem Clip sitzt Alina auf ihrem Bett, trägt Shirt ohne BH darunter und eine kurze Hose. Dabei bewegt sie die Lippen zu einem Audio der Plattform. ›You want a girl with ass? I got you. You want a girl with thighs, with big boobs? I also got you‹, spricht Alina nach. Dieses ›selten dumme‹ Video, wie sie es selbst nennt, brachte ihr über Nacht 500 neue Abonnenten zu je sechs Dollar. Langfristige Kunden von Alina werden sie nicht. ›Die meisten wollen mich nach meinen Videos einmal nackt sehen und das wars.‹ Maximal ein Drittel der Abonnenten folgt ihr heute noch.

Probleme macht das Alina keine. Auf Onlyfans genügen einige treue Fans, um einen Lebensunterhalt zu verdienen. Wie in einem virtuellen Stripclub verdienen Menschen das große Geld nicht an der Poledance-Stange, sondern beim Lap-Dance in der Privatsuite. Rund 80 Prozent der Einnahmen kommen von 20 Prozent der Kunden. So lautet die Rechnung unter den meisten Online-Sexarbeiter. Dieses Fünftel der User ist dazu bereit, große Summen an seine Angebeteten zu überweisen. 

Alina wickelt solche Männer mit System um den Finger. ›In einem Verkaufsgespräch musst du deine Konsumenten verstehen, und ob Menschen einen Stift oder Nacktfotos kaufen, ist egal‹, sagt Alina. Sie hat gelernt: ›Wenn ein Mann an dem Punkt ist, an dem er geil auf dich ist, kannst du mit dem Preis in die Höhe gehen.‹ Während ihrer besten Session nahm sie jemandem so 550 Dollar in einer halben Stunde ab. Nach dem dritten oder vierten Mal löschte er seinen Account. Innerhalb kürzester Zeit hatte er Alina insgesamt rund 2.000 Dollar überwiesen.

Über die besten Strategien unterhält sie sich per Telegram mit Onlyfans-­Sexarbeiterinnen aus der ganzen Welt. Sie tauschen Tipps aus und lästern über Konkurrenz. In den Augen von Alina liegt der größte Fehler von Sexarbeitern darin, den Unterschied ­zwischen Pornhub und Onlyfans zu ignorieren. ›Die Leute wollen Persönlichkeit‹, sagt Alina, ›90 Prozent vergessen ihren Charakter als Verkaufspunkt, wobei er der Grund ist, warum das Geschäft funktioniert.‹ Am übersättigten Markt müssten Anfänger ein Alleinstellungsmerkmal finden. In einer Gesellschaft, die Wert auf Individualisierung und Nähe zu Influencern legt, trifft das Konzept Onlyfans den Zeitgeist. Alina schickt Kunden interaktive Nachrichten, anstatt ihnen bloß ihren Körper zu verkaufen. Sie fragt die Leute, wie ihr Wochenende war oder sendet ein Foto beim Animal-Crossing-Spielen. 

Der Markenkern von Alinas Onlyfans-Account ist kein Fetisch, sondern ihre Persönlichkeit. Wegen ihres Äußeren fällt sie in die plattforminterne Kategorie ›Suicide Girl‹. Das hat nichts mit Selbstmord zu tun, sondern liegt an Alinas Tattoos und den bunt gefärbten Haaren. Ihr Gesicht beschreibt sie als ›süß‹ und ihre Figur als ›weiblich‹. Aussehen ist auf Onlyfans allerdings nicht alles. Was sie und ihren Erfolg ausmache, sei ihr Charakter, meint sie. Sie kommuniziert mit ihren Kunden per Memes und hebt sich so von der Masse ab. Über die Chats erweckt Alina den Eindruck, sie wäre nahbar. 

Viele würden vergessen, sagt sie, dass die Menschen am anderen Ende oft nur jemanden brauchen, mit dem sie über eine Netflix-Serie sprechen können, ohne schlecht behandelt zu werden. ›Ich glaube, dass die Nachfrage dafür in der Pandemie gestiegen ist, und das bildet heute meine Schiene.‹ Seelsorgerin spiele sie dabei nicht, sagt sie. Nur zu Beginn habe sie die Sorgen ihrer Kunden zu nah an sich herangelassen. Ihre eigene Therapeutin habe ihr aber mit Nachdruck davon abgeraten.

All das hat Alina auf 30 Seiten Fließtext zusammengeschrieben. Ihr How-To-Onlyfans liest sich wie eine semi-wissenschaftliche Arbeit, nur ohne Quellenverzeichnis. Zwischen den trocken formulierten Ausführungen über Wirtschaftspsychologie enthält es Zeilen, bei denen sogar Alina selbst lacht, während sie vorliest:

›Ich sage ihnen in meinem Willkommenstext, dass sie mir eine Nachricht schicken sollen. Dazu bekommen sie mein 1:28 Minuten Booby Bounce Video mit dem Text: »Hoffe es gefällt dir Baby heheh. Schreib mir, wenn du mehr brauchst!« Dieses kurze, nicht penetrative Video reicht aus, um sie geil zu machen (aber normalerweise nicht genug, um sie sofort zum Abspritzen zu bringen).‹ (Anm.: Übersetzung aus dem Englischen)

Zwei Dutzend Mal hat sie ihr Handbuch für je 150 Dollar verkauft. Im Vorverkauf kostete es noch die Hälfte. ›Wenn die sich nicht dumm anstellen, bekommen sie an einem Tag das Geld für das Coaching zurück‹, sagt Alina. Zusätzlich zu ihrem Guide nimmt Alina ihre Käufer an der Hand, gibt Feedback und fügt sie in ihre eigene Telegram-Gruppe hinzu. Sie besteht aus 28 Mitgliedern, inklusive Alina. Konkurrenz baut sie in ihren Augen damit nicht auf. Bei Alinas Technik gehe es um die Persönlichkeit einer jeden Person und die könne ihr niemand wegnehmen, meint sie.

Ihren Freund und ihre Familie stört Alinas Berufswahl nicht. Spätestens wenn sie ein Kind hat, möchte sie ihre Karriere als Content-Creator bei Onlyfans aber beenden. Das sei eine Grenze, die sie irgendwann für sich gezogen hat. ›Meinen Lebenslauf wird kaum jemand super finden. Studienabbruch, Growshop und Porno‹, scherzt sie. In ihrem Handbuch sieht sie eine Möglichkeit zu diversifizieren. Coach zu sein und anderen bei ihrem Weg auf der Plattform zu helfen, das hat für Alina Wert. Auch nachts mit Menschen rund um den Globus zu chatten, wird zur Hürde, die sie immer seltener bereit ist zu nehmen. Und Onlyfans ist keine Plattform für einen sicheren Job. Im Herbst 2021 wollten die Betreiber pornografische Inhalte von ihrer Seite verbannen und hätten damit die Einkommensquelle tausender Sexarbeiter schlagartig abgedreht. Theoretisch könnte das jederzeit wieder passieren. Alina lässt sich deshalb regelmäßig Geld auszahlen. ›Würden sie meinen Account löschen, wäre ansonsten alles weg.‹

Und Randall, der texanische Krankenpfleger aus Alinas Anfangszeit? Ihm gehe es gut, sagt sie. Mittlerweile hat Alina nur mehr selten Kontakt zu ihm. Ab und zu schickt er ihr ein paar Dollar und sie ihm Videos von einem ihrer hundert gestellten Orgasmen. Die Zeiten langer Gespräche über sein Privatleben sind vorbei. 

Ob Randall jemand neuem auf Onlyfans Geld überweist und sein Herz ausschüttet oder Alinas Dienste einfach ­seltener braucht, weiß sie nicht. Mittlerweile könne sie die emotionale Distanz zu ihren Kunden gut wahren, sagt sie. Dass sie sich mit der Hilfe von ein paar hundert Randalls auf Onlyfans einen Namen gemacht hat, von dem sie komfortabel leben kann, wird Alina trotzdem nicht vergessen. •

 

*Im vorliegenden Text wurde netto mit brutto verwechselt. Wir haben die entsprechende Passage am 8.6.2022 korrigiert.

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