In den Fugen der Verfassung
Neben den geschriebenen wirken in Österreich auch zahlreiche ungeschriebene Gesetze – die sogenannte ›Realverfassung‹. Welche Lücken schließt sie? Und sollte das nicht eigentlich der Gesetzgeber tun?
Die österreichische Bundesverfassung kennt keine Koalitionen, und die meisten Bundesministerien sind ihr völlig unbekannt. Sie wusste auch lange nicht, was politische Parteien sind oder dass es eine Landeshauptleutekonferenz gibt. Auf den ersten Blick könnte man behaupten: Die Verfassung hat wenig Ahnung von der Politik.
Das wahre Leben, das spielt sich andernorts ab, in der sogenannten Realverfassung. Da entlässt der Bundespräsident keine Regierungen und löst den Nationalrat nicht auf, obwohl er auf dem Papier beides dürfte. Da schnapsen sich die Regierungsparteien aus, wer EU-Kommissar wird, im Austausch für zwei bis drei Gesetzespakete. Die Abstimmung im Hauptausschuss des Nationalrates ist eher eine Turnübung als eine politische Willensäußerung.
Die geschriebene Verfassung bildet diese Realverfassung also nur unzureichend ab, könnte man meinen. Das stimmt aber nur bedingt. Vieles von dem, was heute Verfassungsrecht ist, kommt aus der politischen Praxis, weil man irgendwann das Gefühl hatte, die Realverfassung müsste auch in der Formalverfassung abgebildet werden.
Dass die Bundesregierung ihre Entscheidungen einstimmig fällt, steht zum Beispiel erst seit der Covid-19-Pandemie im Bundes-Verfassungsgesetz, dem Kernstück der österreichischen Bundesverfassung. Dass diese Bundesverfassung nicht das ganze politische Leben abdeckt, ist fast unglaublich, besteht sie neben dem B-VG doch aus etlichen weiteren Bundesverfassungsgesetzen und Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen. Ein auch im internationalen Vergleich gewaltiges Sammelsurium. Das deutsche Grundgesetz ist in etwa halb so dick wie das B-VG – und ist zudem das einzige Verfassungsgesetz auf Bundesebene.
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