Die Zäsur

Corona – das ist eine gesellschaftliche Ausnahmesituation von historischem Ausmaß. Was passiert da gerade mit uns? 25 Persönlichkeiten antworten auf drei Fragen zur Krise.

Fotografie:
Gianmaria Gava
DATUM Ausgabe April 2020

Anders als Natur­katastrophen, Terrorangriffe oder Krieg, trifft die Coronakrise uns alle. Für jeden und jede heißt Solidarität dieser Tage: Abstand halten! Die Straßenseite wechseln! Der alten Da­­me bloß nicht die Türe aufhalten! Zusammenstehen ja, aber nur, wenn man im gleichen Haushalt wohnt. Es ist nicht leicht, unter diesen Bedingungen einen Diskurs zu führen. Früher, vor Corona, haben wir unsere Interviewpartner in die Redaktion einge­laden, gemeinsam Wein getrunken und bis spät in die Nacht debattiert. Zuletzt zu unserem 15. Geburtstag mit 51 Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Medizin, Kunst und Kultur. 25 von ihnen sind unserem aktuellen Aufruf gefolgt, uns zu schreiben: Denn so unterschiedlich die Lebensrealitäten auch sind, wir suchen derzeit doch alle nach Antworten.

Die 3 Fragen:

  1. Welche ungewöhnlichen Erlebnisse hatten Sie in der ersten Woche dieser Ausnahmesituation?
  2. Wo, glauben Sie, werden wir als Gesellschaft in einem Jahr stehen?
  3. Wie verändert dieses Ereignis die Rolle und die Funktion Ihres angestammten Berufsstandes?

 

Luna Al Mousli
Autorin und Grafikdesignerin

1 Als bei den anderen Tag eins anfing, und alle ihre Regale und Kühlschränke füllten, zählte ich Tag 15 – weil eine Bekannte positiv getestet worden war, hielten wir schon Quarantäne, während es in Österreich noch ganz ruhig war. Es wäre also der erste Tag gewesen, an dem ich wieder hätte rausgehen können. Vielleicht meine Oma besuchen oder mit Freunden etwas trinken gehen. Aber auch an diesem Tag blieb ich zu Hause. Ungewöhnlich war die Angst und Vorsicht, die alle plötzlich vereinte, denn dieses Virus ist weder rassistisch noch sexistisch, noch kennt es den Unterschied zwischen Jung und Alt. Vielleicht sollten wir uns davon ein Stückchen abschauen.

2 Diese Ausnahmesituation bringt auch viele Ungleichheiten zur Oberfläche. Nicht jede_r ist sicher zu Hause und hat in seinen vier Wänden Platz. Nicht jede_r kann lernen und sich weiterbilden, weil ein Laptop für die Familie nicht ausreicht für Hausaufgaben und Homeoffice. Nicht jede_r hat weiterhin sein Einkommen, das ihn über diese unvorhersehbare Zeit trägt. Es wird sich in vielen Bereichen etwas verändern, ich hoffe zum Besseren, denn was uns das Virus zeigt, ist, wie schnell Politik und Gesellschaft reagieren können und wie kompromissbereit sie sind, wenn sie wollen.

3 Als selbstständige Autorin und Grafik Designerin habe ich sowieso viel von zu Hause aus gearbeitet. Mir wurden viele Lesungen und Workshops abgesagt oder sie wurden verschoben, doch auf wann, das kann mir keiner beantworten. Auf Lesereisen, im Schreiben und Gestalten habe ich mich oft alleine gefühlt, 2020 sollte alles anders sein, denn ich arbeite mit einem Team auf der Angewandten am Forschungsprojekt ›DEMEDARTS‹. Kaum war ich dabei, mich in einer neuen Routine einzuleben und mich in der Zusammenarbeit mit meinen Kolleginnen einzufinden, musste ich meine zehn Sachen packen, und ab ins Homeoffice. Mir fehlt der menschliche Kontakt, doch im Alleinsein sind wir nicht allein.

Niko Alm
Unternehmer, Publizist und ehemaliger Politiker

1 Es gibt immer noch Haltungen im öffentlichen Diskurs, die mich negativ überraschen und die die Ungewöhnlichkeit des ohnehin schon für alle gleichermaßen Ungewohnten noch weiter überschreiten. Als wäre es nicht bestürzend genug, dass viele Menschen dummdreiste Theorien über die Gefährlichkeit des Virus, der Krankheit und Ge­­gen­maßnahmen ventilieren, wollen manche – darunter auch Personen des öffentlichen Lebens – ernsthaft die Verbreitung von Falschinformation mit Geld- und Freiheitsstrafen versehen. Dazu soll der aufgeho­­bene §276 StGB ›Verbreitung falscher, beunruhigender Gerüchte‹ dienen. Unsere Grundrechte werden in der jetzigen Situation ausreichend strapaziert. Weitere Einschränkungen, wie eine Kürzung des Rechts auf freie Rede, darf es nicht geben.

2 Nach dem Frühjahr 2021 werden wir als Gesellschaft ziemlich genau da stehen, wo wir vor der COVID-19-Krise gestanden sind. Wir werden besser auf Pandemien vorbereitet sein und alles andere schnell vergessen haben.

3 Bei mir ist das mit dem angestammten Berufsstand etwas schwierig, aber wenn ich mich jetzt einmal im weitesten Sinn als Medienmacher und Publizist deklariere, dann hoffe ich, dass es durch das Coronavirus auch zu einer größeren Wertschätzung traditioneller Funktionen des Journalismus kommen wird und dass das in weiterer Folge dem Funktionieren von Geschäftsmodellen zuträglich ist.

Hannes Androsch
Unternehmer und ehemaliger Finanzminister

1 Keine, außer eine deutliche Verringerung der Termine.

2 Die durch die Krise erzwungene Entschleunigung wird sich in gemäßigter Weise fortsetzen. Es wird zu Veränderungen des Konsumverhaltens kommen, insbesondere was Urlaub und Reisen anlangt. In der Produktion wird man versuchen, die Risken allzu fein gesponnener Lieferketten und zu geringer Lagerhaltung zu verringern. Dies wird den verstärkten Einsatz von Digitalisierung, Roboterisierung, künstlicher Intelligenz und 3D-Herstellung bewirken. Insgesamt wird sich die digitale Transformation beschleunigen. Dies wird bei uns insbesondere den Schulbetrieb betreffen. Bei strategischen Produkten wie Medikamenten oder Schutzanzügen wird man trachten, lokale Versorgung sicherzustellen. Man wird mehr Aufmerksamkeit der kritischen Infrastruktur schenken und man wird, sowie Taiwan oder Südkorea nach SARS 1, entsprechende Krisenpläne erstellen und Vorsorge für mehr Intensivbetten, Beatmungsgeräten und Testmöglichkeiten treffen.

3 In meinem Leben hatte ich höchst unterschiedliche Aufgaben. Meine derzeitige ist im Wesentlichen eine unternehmerische. Bei dieser werde ich danach trachten, die oben geschilderten Risken in unseren Unternehmungen zu verringern. Dabei werden uns bei AT&S die Erfahrungen in unseren Werken in China zugutekommen. Dort hatten wir bisher keinen einzigen Corona-Fall und die Fabriken fahren mit hundert Prozent Kapazität. Zu all dem wird es hoffentlich wieder einen nationalen Schulterschluss mit mehr Zusammenhalt, Gemeinsinn und Solidarität statt polarisierender Selbstinszenierung geben.

Cecily Corti
Obfrau des Vereins Vinzenzgemeinschaft

1 Ein ungewöhnliches Erlebnis hatte ich tatsächlich, möglicherweise ist es auf die so besondere Ausnahmesituation zurückzuführen. In Südfrankreich, wo ich gerade einige Wochen verbrachte, ließ ich eine Dose Farbe im Geschäft mischen, um Fensterbalken zu streichen. Balken und Farbdose verstaute ich im Auto hinten. Nach notgedrungener abrupter Spontanbremsung flog die Dose samt zweieinhalb Liter rot-braunem Inhalt durch das Auto und ergoss sich über den gesamten Innenraum. Hermann Nitsch hätte große Freude daran. Ich denke, der Verkäufer im Geschäft war von der Ausnahmesituation, die auch in Frankreich das Coronavirus ausgelöst hat, so verwirrt, dass er vergaß, die Farbdose richtig zu schließen. Es war der letzte Tag, die letzte Stunde, an dem dieses Unternehmen – wie alle anderen auch – in Frankreich geöffnet war.

2 Hoffentlich gelassener, bescheidener und bereit, mit eingeschränkten Lebensumständen zurecht zu kommen. Unser Potential an Kreativität wird jedenfalls ordentlich gefordert. Das kann nicht schaden. Vielleicht kann auch das Klima davon profitieren.

3 Ich kann nicht von einem angestammten Berufsstand sprechen, ich bin in Pension. Für mich als Mensch wird zunehmend und sicher auch durch diese Zeit jetzt entscheidend: Was ist mir wesentlich, was macht mich als Mensch aus?

Barbara Coudenhove-Kalergi
Journalistin

1 Vor allem eine Welle der Hilfsbereitschaft. Nachbarn, die ich nur als ›Top‹-Bewohner kannte, bieten plötzlich Unterstützung an. Im Stiegenhaus liegt ein Zettel mit der Mitteilung, dass jemand allen, die es brauchen, das Einkaufen abnehmen will. Familienmitglieder und Freunde rufen an und fragen: ›Brauchst du was?‹ ›Ich will nicht, dass du dich infizierst und stirbst‹, sagt ein 13-jähriger Großneffe. Ferner: Ich habe gelernt, tagein, tagaus ohne soziale Kontakte zu leben. Eremiten und Wüstenväter haben daraus ein Lebensideal gemacht. Ein Lebensideal ist es für mich nicht, aber es geht.

2 Wie wir in einem Jahr dastehen werden, kann niemand seriös sagen. Wohl aber, welche Fragen uns beschäftigen werden und jetzt schon beschäftigen. Das bisher gängige Mantra ›weniger Staat, mehr privat‹ und ›Der Markt regelt alles‹ gilt nicht mehr. Die Leute wollen einen starken Staat. Wird das zu einer Stärkung der demokratischen Institutionen führen? Oder zu mehr Autoritarismus? Die in Ungnade gefallene Sozialpartnerschaft ist wieder da. Wird das so bleiben? Was wird aus der Globalisierung? Wir haben gesehen, wie sehr wir von der Wirtschaft anderer Länder abhängig sind. Andererseits haben wir in der Krise Selbstversorgung und Regionalismus schätzen gelernt. Wird die Europäische Union die Corona-Folgen überstehen? Oder vielleicht sogar gestärkt werden? Derzeit wächst allerorten der Nationalismus. Die Staaten schauen in erster Linie auf ›unsere Leute‹. Aber man weiß auch, dass eine Weltkrise von Nationalstaaten allein nicht bewältigt werden kann. In der gegenwärtigen Ausnahmesituation hat die Konsumgesellschaft Pause. Werden wir uns, wenn alles vorbei ist, wieder heißhungrig ins Shoppen und Konsumieren stürzen? Oder werden wir uns inzwischen daran gewöhnt haben, dass wir vieles von dem, was wir früher unbedingt haben wollten, gar nicht brauchen ? In der Krise wächst die Ungleichheit. Arme leiden mehr daran als Reiche. Ungerechtigkeit wird sichtbarer. Wird es hier ein Umdenken geben ? ›Alles wird gut‹ lautet ein in Italien beliebter Hashtag. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

3 In den letzten Wochen haben die Leute erkannt, was sie an Qualitätsmedien, vor allem dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, haben. Wer seriöse Informationen dringend braucht, schätzt objektive Informanten und kritische Analysten. Das Vertrauen in soziale Medien und mögliche Fake-News-Verbreiter ist gesunken. Der Ruf nach Abschaffung der ORF-Gebühren (›Zwangsgebühren‹) ist leiser geworden. Wenn die Krise vorbei ist, wird der seriöse Journalismus einer der Gewinner sein.

Gregor Demblin
Unternehmer

1 Für Menschen mit Behinderung sind die Herausforderungen in diesen Tagen besonders hoch. Viele gehören zur Risikogruppe, und neben den Maßnahmen im Zusammenhang mit Ausgangssperren geht es bei ihnen vielfach auch um zusätzliche große Herausforderungen, etwa bei der Organisation von Beruf, Studium oder Alltag, wenn persönliche Assistentinnen nicht mehr kommen können, wenn dringend benötigte Medikamente schwer zu bekommen sind und wenn nur noch die digitale Welt zugänglich scheint. Es geht also vielfach um noch unmittelbarere existenzielle Sorgen.
In den letzten Tagen hat sich aber auch eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit gezeigt. Diese Geschwindigkeit macht Hoffnung: Hoffnung auf schnelles kollektives Lernen. Und noch etwas fällt auf: Vielfach ist eine Rückbesinnung zu beobachten auf das, was in unserem Leben wichtig ist, was unser Leben ausmacht. Ein Phänomen, das mich seit meinem Unfall sehr beschäftigt, ist jetzt bei vielen Menschen zu beobachten: dass wir viele Qualitäten des Lebens erst dann zu schätzen lernen, wenn sie nicht mehr selbstverständlich sind, wenn wir sie verloren haben. Dadurch bekommt das Leben eine ganz neue Wertigkeit. Wir alle lernen dieser Tage, dass die Freiheit und unser unglaublicher Wohlstand bei weitem nicht selbstverständlich sind. Und sind dankbar dafür, wie gut es uns geht.

2 Wir müssen uns auf ein höchst turbulentes Jahr einstellen. Nichts wird so sein wie davor. Mittel- bis langfristig sehe ich aber doch eine Rückkehr in die gewohnten marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Eine meiner großen Hoffnungen ist es, dass wir durch die Krise lernen, nicht ausschließlich auf Wirtschaftswachstum, sondern auch auf die Gesundheit unseres Planeten zu achten. Und noch eine Randbemerkung: Die Idee Europa gibt derzeit kein gutes Bild ab und wird leider im Zuge dieser Krise weiter untergraben.

3 Unser Social Business ändert sich derzeit extrem. Es ist nicht vorherzusehen, ob soziale/menschliche Werte in der Wirtschaft mittelfristig einen hören oder niedrigeren Stellenwert haben werden. Die große Chance für Unternehmen liegt derzeit darin, gewohnte Prozesse in den digitalen Raum zu verlagern – eine Entwicklung Richtung Zukunft, die gerade in Europa längst überfällig war. Mehr denn je ist Agilität und Anpassungsfähigkeit gefordert. Ich glaube, dass vor allem die Digitalisierung, gerade in der Krise, darüber entscheiden wird, wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern zählt.

Marc Elsberg
Schriftsteller

1 Ich befand mich bereits mehrere Wochen auf einer USA-Reise, die zunehmend von den Entwicklungen beherrscht wurde. Schließlich stand ich vor der Entscheidung: bereits gebuchte Quartiere etc. (ein lang gehegter Traum: Schreiben in einem Beach House in Malibu) verfallen zu lassen oder die Reise fortzusetzen. Ich entschied mich für – wie die Amis sagen (und sich dann nicht daran halten) – ›Better safe than sorry‹ und reiste zurück. Daheim ist für mich kaum etwas anders als sonst. Als Autor arbeite ich immer zu Hause, bloß mit Freunden auf ein Glas Wein kann ich am Abend nicht mehr gehen. Als Autor von ›Blackout‹ hatte ich die behördlich empfohlenen Vorräte für Krisensituationen daheim, also auch diesbezügliche keine Sorgen. Als Blackout-Autor werde ich derzeit – wieder einmal, wie öfters bei Krisen oder Ereignissen, die themennahe zu meinen Thrillern sind – für zahlreiche Interviews zu ›Gesellschaft in Krisenzeiten‹ etc. gefragt. Das war die erste Woche. So seltsam es klingt: Business as usual.

2 In dieser Situation kann seriöserweise niemand wirklich etwas Konkretes über den Zustand in einem Jahr sagen. An derartiger Kaffeesatzleserei will ich mich daher gar nicht beteiligen. Das Einzige, was man jetzt schon sagen kann, ist, dass sich vieles verändern wird – so, wie es nach anderen einschneidenden Extremereignissen immer der Fall war; für meine Generation (Jg. 67) waren das etwa Tschernobyl, 1989, die Anschläge vom 11. September 2001, die Finanzkrise 2008/9.

3 Ich bin Autor von Romanen. Weder Funktion noch Rolle dieses Berufsstandes werden sich dadurch verändern. Wir haben davor Geschichten erzählt und tun das weiterhin.

Heinz Fischer
Bundespräsident a.D.

1 Das Ungewöhnlichste am Beginn der Coronavirus-Krise war für mich die enorme Bandbreite der Einschätzungen, Reaktionen und Prognosen, die von totaler Unterschätzung (›Autofahren ist wesentlich gefährlicher als dieses Virus…‹) bis zur Panikstimmung (›Es wird allein in Österreich bald zehntausende Tote durch dieses Virus geben‹) reichte.

2 In einem Jahr werden die ökonomischen Auswirkungen dieser Pandemie noch sehr stark spürbar sein. Dabei sind die schärfsten Kritiker des berühmten Satzes von Bruno Kreisky, wonach ihm viele Millionen Schilling Schulden weniger schlaflose Nächte bereiten als viele tausend Arbeitslose, genau diejenigen, die jetzt nach dem Motto ›Koste es, was es wolle‹ gegen hohe Schulden keine Einwendungen mehr haben, wenn es gilt Unternehmungen und Arbeitsplätze zu sichern; aber besser eine späte Einsicht, als keine Einsicht. Ich erwarte und hoffe, dass die wirtschaftliche Erholung rascher erfolgen wird als nach der Finanzkrise von 2008. Und ich kann mir auch vorstellen, dass manche wichtige Maßnahmen für den Klimaschutz, im Bereich der Gesundheitspolitik oder im Bildungssystem (Teleteaching) nach dieser Krise leichter durchsetzbar sein werden, als bisher. Auch im Tourismus und im Flugverkehr muss man sich auf neue Entwicklungen einstellen. Aber wenn wir uns die so genannte Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg mit ihren Millionen Toten in Erinnerung rufen, dann lässt sich daraus ableiten, dass der längerfristige Einfluss solcher Katastrophen auf die Grundzüge der gesellschaftlichen Entwicklung begrenzt ist. Die großen Herausforderungen an die menschliche Gesellschaft werden im Wesentlichen unverändert bleiben (Kampf gegen die Armut, Kampf um Zugang zu Gesundheitssystemen, Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Demokratie, etc. – siehe auch die ›Sustainable Development Goals‹).

3 Ich erwarte daher eine Reihe von Maßnahmen in den oben erwähnten Bereichen, aber keine wirklich gravierenden Veränderungen in den Formen und Inhalten der Politik.

Kenan Güngör
Soziologe und Experte für Integrationsfragen

1 Es begann eine Woche davor, mit dem Besuch meiner Mutter aus Köln. Als eine ältere, tapfere Frau, die in ihrem Leben viel durchlebt hat und der Ängstlichkeit oder Panik fremd sind, war sie perplex, wie sorglos und unbedarft wir in Österreich noch mit dieser anstehenden Epidemie umgingen. Ihr Meiden von belebten Orten, das Mittragen von Reinigungstüchern und ihre eindringlichen Ermahnungen hatten mich anfangs belustigt, dann irritiert und zunehmend nachdenklicher gemacht. So stieg die Ahnung, wie etwas weit Entferntes, surreal Anmutendes, unweigerlich immer näher kam. Noch hatte es die Allerwenigsten getroffen, aber eine spannungsgeladene, zum Teil entzückt-schauderhafte Vorahnung machte sich breit, dass das die Vorwellen eines sich im Horizont auftürmenden Tsunamis sind.

2 Sollte es gelingen, die Pandemie einzudämmen und ein Impfmittel zu entwickeln, dürften wir dabei sein, die Folgen einer schweren Weltwirtschaftskrise aufzuarbeiten und uns über die Schattenseiten der Globalisierung Gedanken machen. Das wäre noch die günstigste Variante. Sollte keine mittelfristige Einhegung möglich sein, so glaube ich nicht, dass die Strategie des ›Shut-downs‹ tragfähig ist. Denn sie würde zu einem Zusammenbrechen der Märkte führen und damit auch zur Implosion unseres Sozialstaates. Ich glaube, dass wir uns in Richtung der Strategie der ›Herdenimunisierung‹ bewegen werden, in der Ältere und chronisch Kranke über Quarantänemaßnahmen geschützt werden und der Rest durch eine ungebremste Infizierung schnell immunisiert wird. Daher wäre es wichtig, den Verläufen entsprechend verschiedene Strategien zu entwickeln, anstatt alles auf Plan A zu setzen. Dafür sind die Geschehnisse zu komplex und unabsehbar.

3 In meinem Gebiet der angewandten Sozialforschung und Beratung können kurz- und mittelfristig viele Projekte, Vorträge, Beratungen, Studien und Strategieprozesse nicht mehr durchgeführt werden. Das führt zu starken Einbußen. Längerfristig aber wird die Expertise der Soziologen wohl stärker gefragt werden. Denn die Analyse hochkomplexer, kontingenter und fragiler Situationen und Systeme ist ihr Metier. In dem müssen sie sich bewähren, wenn sie ernstgenommen werden möchten.

Felix Hafner
Theaterregisseur

1 Zu Beginn dieser ersten Woche war ich noch dabei, eine Theaterproduktion zu Ende zu proben. Wir wussten zwar schon, dass die Premiere nicht stattfinden würde, aber wollten es trotzdem zur Generalprobe bringen. Die Ungewissheit, wann unser Stück aufgeführt wird, und die sich immer weiter zuspitzende Lage kostete alle immens viel Energie und Konzentration. Seit dem Abbruch der Proben und dem Abfallen des Adrenalins dieser Zeit hatte ich viele widersprüchliche Erlebnisse – manche zeugten von Ignoranz und Unwissen, andere wiederum überraschten mich in ihrer Solidarität. Das Eindrücklichste war bestimmt das Handeln einer Person, die mutmaßlich Symptome simuliert hat, um schnellstmöglich in ihr Heimatland zurückzureisen, bevor die Grenzen zugemacht wurden. Mit dieser Aktion hat sie einen ganzen Betrieb tagelang verunsichert.

2 Wir werden hoffentlich ein größeres Bewusstsein über den Wert unserer sozialen Kontakte, von Grundrechten der Freiheit, dem Bedürfnis nach Kunst und Kultur haben. Politische Themen wie Pflege, Gesundheit und Forschung werden plötzlich verhandelt werden müssen. Viele Menschen werden damit kämpfen, ihre Existenzen wieder aufzubauen, die psychischen Folgen dieser Ereignisse werden gesellschaftlich auch weitreichend sein.

3 Das Theater wird sich durch diese Krise seiner Rolle in der Gesellschaft bewusster werden, zusätzlich sehen wir durch diesen Ausnahmezustand plötzlich neue Möglichkeiten der kulturellen Betätigung im digitalen Raum, die sicher danach nicht vergessen werden. Ich hoffe, dass die Menschen das Theater und sein Live-Erlebnis mit all den anderen Zuschauer*innen vermissen werden und die Vorstellungen stürmen werden! Das wird aber nur möglich sein, wenn die angekündigten Hilfsmaßnahmen für Institutionen und freischaffende Künstler*innen konkret werden. Die Existenz tausender Kunstschaffender ist gefährdet und unsere Kulturlandschaft wird brachliegen, wenn hier nicht flächendeckend geholfen wird.

Gregor Henckel von Donnersmarck
Altabt des Stiftes Heiligenkreuz

1 Das Stift Heiligenkreuz wirkt derzeit wie eine Festung im Verteidigungszustand. Wenn man sich vor Augen hält, wie viele Besucher, Pilger und Menschen zu uns kommen, dann ist es verblüffend, wie ruhig es momentan ist. Niemand kommt mehr in das Stift hinein, und wer hinaus muss, darf nicht mehr zurückkommen. Sinnvolle Maßnahmen zur Verhütung von Ansteckung ergeben ein ungewöhnliches Erlebnis des eigenen Hauses.

2 Als Diplomkaufmann darf ich hoffen, dass die Wirtschaft doch wieder in Gang kommt, und ich glaube, dass Regierung und europäische Zentralbank die richtigen Maßnahmen setzen. Als Priester und Ordensmann hoffe ich, dass die Menschen durch die jetzige Krise ein wenig nachdenklicher/philosophischer, ja vielleicht sogar ein wenig religiöser werden. Vielleicht gilt noch immer der alte Grundsatz: Not lehrt beten.

3 Mein Berufsstand der Priester ist momentan in seiner Tätigkeit sehr eingeschränkt, aber über die Medien gibt es erstaunlich viele Möglichkeiten, das zu ersetzen. Wir übertragen aus Heiligenkreuz täglich drei heilige Messen, die über Livestream angeschaut werden können. Noch nie in den letzten Jahren hab ich so viele Anrufe von Menschen bekommen, die seelsorglichen Rat suchen.

Markus Hengstschläger
Genetiker

1 Ich habe schon die Woche davor als Konsequenz der aktuellen Situation eine gesamte Vorlesung nicht in einem Hörsaal vor Zuhörerinnen und Zuhörern gehalten, sondern vor einer Kamera für eine Übertragung im Internet. Ich denke, wir alle müssen in diesem Bereich – Stichwort digitale Bildung – noch sehr viel lernen. Und unter logisch, sinnvoll und effizient aber eben auch für uns ›ungewöhnlich‹ würde ich auch die Kohortenbildung – Trennung von Teams von MitarbeiterInnen, wie wir sie etwa im Bereich der genetischen Diagnostik bei uns eingeführt haben, erwähnen.

2 Ich gehe davon aus, dass wir als Gesellschaft gut verstanden haben werden, dass ›stehen‹ wenig Sinn macht. Wir müssen permanent in Bewegung bleiben, auch um durch entsprechende Flexibilität neuen Bedingungen begegnen zu können. Und wir werden viel über Solidarität gelernt haben.

3 Ich arbeite an der Medizinischen Universität Wien in den Bereichen Wissenschaft, genetische Diagnostik und Lehre. Das Ansehen der Wissenschaft in der Bevölkerung wird vielleicht noch steigen, die Bedeutung der medizinischen Diagnostik ganz allgemein wird vielleicht mehr präsent sein und wir werden Aspekte wie etwa E-Learning, Distant Learning, Home-Learning etc. vielleicht breit akzeptiert haben.

Lisz Hirn
Philosophin

1 Mein Geburtstag war der letzte Tag in Freiheit, also vor den Ausgangsbeschränkungen. Ich habe ihn ganz bewusst genossen mit dem Wissen, dass ab morgen nichts mehr so sein wird, wie es mir Jahrzehnte lang selbstverständlich war. Danach maßvoll eingekauft, die nötigsten Sachen gepackt und ins Exil gefahren. Das Privileg, dass mein Kind nun jederzeit zum Toben in den Garten kann, ist unbezahlbar. Ich arbeite anders, langsamer, Deadlines sind tot.

2 Wo? Nein, das Wie ist die Frage! Vor einem Jahr hätte ich nicht geahnt, dass unsere Zivilisation nachhaltig durch ein Virus verändert werden wird. Nach der Pandemie wird nichts mehr so sein, wie es war. Ich hoffe, wir werden das zu unser aller Gunsten nützen!

3 Gar nicht, denn Staunen, Zweifeln und Betroffenheit sind die Wurzeln meines Berufsstandes.

Martina Hörmer
Geschäftsführerin ›Ja! Natürlich‹

1 Die Menschen haben sehr langsam den Ernst der Lage realisiert. Ich war verwundert, dass Leute noch verreist sind, sich massenhaft getroffen haben. Der Donaukanal war voll. Die Leute sind Ski gefahren und haben unbeeindruckt lustige Fotos gepostet: feiernd mit Corona-Bier am Arlberg. So viel Dummheit ist ungewöhnlich, vor allem aber gefährlich. Ungewöhnlich war auch das falsche Reagieren der Skiorte. Leute mit Symptomen wurden nicht richtig behandelt, nicht in Quarantäne geschickt. Während die Bundesregierung ein beeindruckendes Krisenmanagement vorgelegt hat, sind die Landesregierungen nur langsam und zögerlich gefolgt. Wie sich jetzt zeigt, war dies fatal, das Virus hat sich im ganzen Land und in ganz Europa verbreitet. Ungewöhnlich gut ist die Performance des ORF und des Lebensmitteleinzelhandels. Hier gebührt sehr sehr großes Lob für laufende, akkurate Berichterstattung und die landesweite Versorgung mit Lebensmitteln.

2 Die Gesundheitskrise ist auch eine Krise der Globalisierung. Sie zeigt die Schwächen der Weltwirtschaft auf, die Fragilität, die Schattenseiten gegenseitiger Abhängigkeiten. Plötzlich brechen unverwundbar geglaubte Systeme wegen eines Virus zusammen. Globale Netze werden lokalen Netzwerken weichen. Wir werden wieder das, was wir brauchen, selbst produzieren. Lokales und Handwerk erleben eine Renaissance. Tourismus muss sich auf ein verträgliches Maß rückentwickeln, sodass die Natur wieder atmen und sich erholen kann. Europa hat den Kampf um die Vorherrschaft bei der Digitalisierung verloren, aber bei der Bewältigung der Klimakrise werden wir führend sein. Gewinn ist nicht mehr alleiniges Ziel, sondern Ergebnis erfolgreichen, nachhaltigen Wirtschaftens.

3 Der Lebensmitteleinzelhandel erfährt die Wertschätzung, die ihm lange verwehrt blieb. Die Krise holt die wahren Leistungsträger einer Gesellschaft vor den Vorhang: die vielen Mitarbeiter in den Filialen, im Lager, die Fahrer, … sie alle leisten Großartiges, ohne diese Menschen hätten wir nichts zu essen.

Harald Katzmair
Netzwerkforscher

1 Der Kontrast zwischen der Panik, die dann plötzlich doch um sich zu greifen begann, und den wunderschönen Frühlingstagen mit dem Vogelgezwitscher war für mich das Bemerkenswerteste dieser ersten Woche. Hier die besorgte Menschheit und dort eine Natur, die völlig indifferent unserer Angst gegenüber ist. Das ist auf der einen Seite tröstlich, zeigt aber auch, dass die Natur in all ihrer Pracht und Schönheit auch etwas sehr Unsentimentales und Mitleidloses an sich hat.

2 Corona ist ein systemischer Scheitelpunkt, analog einem Bergrücken, der eine Wasserscheide darstellt. Das Wasser kann in die eine oder andere Richtung abfließen. Wir werden jetzt Monate, wahrscheinlich Jahre hoher Instabilität vor uns haben. Es kann in beide Richtungen gehen: Vollständige Verstaatlichung des Bankensektors, extreme Arbeitslosigkeit und radikaler Tribalismus mit regionalen Mikro-Abschottungen sind genauso möglich, wie ein Aufblühen von Österreich und Europa mit einer neuen Agenda rund um den Green-New-Deal, der sich an Resilienz- und Autonomiekriterien orientiert und wie nach dem Wiederaufbau eine enorme wirtschaftliche Dynamik entfaltet. Es wird extrem davon abhängen, wie schnell eine Impfung oder effektive Medikamente zur Verfügung stehen werden.

3 Wir bei FASresearch entwickeln Software und Tools, die es Teams und Gruppen ermöglichen, gemeinsam systemische Lagebilder zu erstellen, vor allem in Krisensituationen. Es wird sich an unserer Arbeit nichts ändern, außer dass noch mehr Sachen online passieren und damit entwertet werden, weil alles, was online passiert, als ›billiger‹ wahrgenommen wird. Insofern wird das auch ökonomische Folgen haben, einmal davon abgesehen, dass Konferenzen bis zur Entwicklung von Impfungen ausfallen werden. Ich glaube nicht an den Untergang meines Berufsstandes, aber sehr wohl daran, dass die Karten jetzt vielerorts völlig neu gemischt werden.

Bernd Marin
Sozialwissenschaftler

1 Gleichzeitig wurde nicht nur das Beste, Innovativste, Humanste, sondern auch das Mieseste unserer Spezies offenbar: Vom Diebstahl lebenswichtiger Schutzkleidung und Masken, Plünderungen von Desinfektionsmitteln und -automaten in deutschen Spitälern am helllichten Tag und ›laufenden Diebstählen‹ im österreichischen Parlament, über Panikhamsterkäufe, verantwortungslose Geschäftsgier und Wucher bis zu Waffen- und vor allem Munitionskäufen. Warum wird eigentlich keinem der offenkundig gefährlichen Psychopathen, die sich jetzt mit einer Verdreifachung der ›üblichen‹ Munition eindecken, automatisch der Waffenschein entzogen?

2 Ich wage die Prognose, dass Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten in liberalen Demokratien, wenn überhaupt konsensuell (!) nur im Zeichen akuter Gesundheitskrisen wie Seuchen oder Umwelt-/Nuklear- oder Klimakatastrophen stattfinden könnten, wohingegen Notstand wegen kriegerischer oder gewalttätiger Auseinandersetzungen wie etwa der Gelbwesten-Aufstände, Massenmigration usw. selbst nur weitere Konflikte und Gewalt hervorrufen würde. Nur was ich schon 2013 als ›sanitizing‹ und ›sanitarism‹ analysierte, eine Art obsessives Keimfrei-machen-Wollen, nämlich umfassendes Sterilisieren des seuchenbedrohten ›Volkskörpers‹, würde selbst eine stille, mehrheitsfähige Ausschaltung der Demokratie auf demokratischem Wege legitimieren. Wir sollten uns nicht wundern, was im Gebote öffentlicher ›Gesundheit‹, und zwar nur der ›Gesundheit‹ als unserer säkulären Ersatzreligion, alles möglich und legitim gemacht werden könnte. Umgekehrt könnte gerade eine erfolgreiche Abwehr autoritärer Versuchungen in den Notstandzeiten dauerhaft gegen illiberale Ansteckung immunisieren.

3 [keine Antwort]

Nuno Maulide
Chemiker

1 Wo soll ich anfangen? Wir haben die Promotion eines halbitalienischen Doktoranden ohne Publikum und mit seiner Familie nur per Skype zugeschaltet durchgeführt, ich habe zum ersten Mal den Hofer im 17. Bezirk um 7:40 komplett voll gesehen, wir haben die Forschung in unseren Labors zum ersten Mal in meinem Leben komplett eingestellt, und progressiv und innerhalb von sechs bis sieben Tagen hat sich mein Reisekalender für die nächsten zweieinhalb Monate komplett geleert. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich zuletzt Februar-März-April-Mai ohne Flüge (insbesondere berufliche Reisen) erlebt habe.

2 Es ändert sich schon viel, und zwar nur nach ein paar Tagen. Die Menschen merken erst, wie gleichgestellt wir alle in dieser Situation sind – egal wie reich oder wie arm, wie ausgebildet oder nicht, es gelten für alle dieselben sozialen Restriktionen. Dazu kommt noch die Tatsache, dass der Mensch manchmal leider weit weg von ›vorbildlich‹ mit solchen Angelegenheiten umgeht: als gebürtiger Portugiese bin ich sicher nicht stolz, wenn nach der Schließung von Schulen und Universitäten sowie sämtlichen anderen Betrieben im Internet Bilder mit überfüllten Stränden kursieren; Portugal ist aber leider nicht allein in solchen Geschichten. Und dazu noch die Frage: wie lang können wir als Gesellschaft so eine Situation aushalten? Natürlich können wir uns vermutlich innerhalb einiger Wochen eine Rezession erwarten und dies nach mehreren Jahre wirtschaftlichen Wachstums – sowas hat auch seine Konsequenzen, die alles andere als gut sind.

3 Die Frage gefällt mir besonders, weil vor allem die Lehre eine noch nicht klare Reihe von Konsequenzen zu erwarten hat. Es ist hundertprozentig klar: Während der aktuellen Situation werden wir Vorlesungen ausschließlich im Online-Regime halten können. Als Hochschullehrer, der immer noch fest davon überzeugt ist, die Präsenzlehre sei essenziell und man könne organische Chemie ohne Tafelbild und Mitschreiben von den Studenten nicht gescheit unterrichten, wird es für mich besonders spannend zu sehen, wie wir es schaffen werden! Wobei ich trotz meiner Überzeugungen auch eindeutig verstehe, dass die ideale Lehre 2020 nicht unbedingt nach den Methoden von 1960 gestaltet werden muss.

Adele Neuhauser
Schauspielerin

1 In der ersten Woche war ich mitten in den Dreharbeiten zu einer neuen Tatort-Folge. Morgens, in der Maske, bekam ich als erstes ein fast handtuchgroßes Desinfektionstuch, und die Begrüßungen waren keine Umarmungen mehr, sondern ein distanziertes Hallo, oder ein neckisches Aneinanderstoßen der Ellbogen. Am Freitag, den 13., hatte ich Nachtdreh und beschloss noch schnell einkaufen zu gehen, damit ich am Samstag nicht unbedingt aus dem Haus müsste. Eine unfassbar lange Schlange an den Kassen zog sich durch das ganze Geschäft, und die Regale waren leergekauft. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Beim Warten erklärte mir eine Frau, dass diese Hysterie völlig unangebracht wäre und dass diese Maßnahmen, seitens der Regierung, nur aus wirtschaftlichen Gründen inszeniert würden. Unfassbar! Was geht in den Köpfen mancher Menschen vor. Samstag musste ich also nochmal mein Glück versuchen. Der Ansturm war zwar vorbei, und die Regale waren wieder mäßig gefüllt, aber Toilettenpapier gab es immer noch nicht. Wahrscheinlich gilt auch hier: Der frühe Vogel fängt die Rolle!

2 Das ist wirklich eine schwierige Frage, weil sich die Antwort auch auf große Hoffnung stützt. Wir spüren jetzt, dass Entschleunigung gut tut. Dass wir rigorose Maßnahmen umsetzen können. Dass Solidarität und Empathie gelebt werden und sich auch gut anfühlen. Wenn wir diese Erfahrungen in der Bewältigung der Flüchtlingskrise und im Klimawandel weiterführen, dann sehe ich eine großartige Gesellschaft.

3 Ich denke, dass sich für meinen Berufsstand nicht wirklich viel ändern wird.

Andreas Salcher
Unternehmensberater und Buchautor

1 Für mich bestätigt sich gerade in Krisenzeiten die These von Viktor Frankl: Es gibt nur zwei Arten von Menschen: die Anständigen und die Unanständigen.

2 Die Coronakrise ist nach 9/11 und der Flüchtlingskrise ein weiterer ›schwarzer Schwan‹. In seinem gleichnamigen Buch beschreibt Nassim Nicholas Taleb die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse. Viele Billigfluglinien werden die Krise nicht überstehen, und auch manche Kreuzfahrttouristen werden sich überlegen, ob sie in einem riesigen Koloss wo­chen­lang eingeschlossen sein wollen, nur weil ein Passagier infiziert ist. Viele der Euro-Milliarden, die für die langfristige Bekämpfung des Klimawandel geplant waren, wird man für kurzfristige Maßnahmen zur Bewältigung der dramatischen Folgen für die Wirtschaft umwidmen. Meine größte Hoffnung ist, dass die politischen Entscheidungsträger den Mut finden, unser Bildungssystem endlich ins 21. Jahrhundert zu bringen. Unser Schulsystem versucht noch immer mit Tafel und Kreide Wissen zu vermitteln, das auf einem seit 80 Jahren fast unveränderten Curriculum basiert. Dabei können weder Lehrer noch Schüler mit Suchmaschinen konkurrieren. In Zu­kunft werden Menschen zusätzliche Fähigkeiten beherrschen müssen, um ein selbstbestimmtes Le­ben führen zu können, denn ›schwar­ze Schwäne‹ wird es weiter geben.

3 Der visionäre Denker Yuval Harari geht davon aus, dass Menschen sich in Zukunft aufgrund des rapiden Fortschrittes der künstlichen Intelligenz alle 15 Jahre neu erfinden müssen, um berufliche Herausforderungen bewältigen zu können. Die ›angestammten Berufsstände‹ wird es immer weniger geben. Ich selbst habe mich in meinem Leben mehrmals neu erfinden müssen. Was mich aufrecht hält: Ich bin bisher immer gestärkt darau hervorgegangen, oder wie Camus geschrieben hat: ›Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir einen unbesiegbaren Sommer gibt.‹

Florian Scheuba
Kabarettist

1 Der Gegensatz zwischen instinktiver Euphorisierung durch Frühlingsbeginn und gleichzeitig deprimierender Zukunftsaussicht angesichts der Krisensituation stellt das Bemühen um innere Ausgeglichenheit vor eine sehr spezielle Herausforderung.

2 Das Virus ist ein Angriff auf die körperliche Gesundheit unserer Gesellschaft, die zu Recht erlassenen staatlichen Notstandsverordnungen sind ein Angriff auf die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und demokratische Gesundheit unserer Gesellschaft. Ich hoffe, dass wir alle Angriffe mit möglichst geringen Schäden überstehen.

3 Es ist zu befürchten, dass Auftrittsverbote noch länger gelten werden. Dass Humor und Satire als eine Form von Notwehr notwendig sind, wird aber auch in Zukunft so sein.

Heide Schmidt
Frühere LIF-Bundessprecherin

1 Ich befand mich von Montag, 9. März bis 16. März im Spital. Am 10. wurde ich an der Wirbelsäule operiert, bis zum 12. durfte ich noch Besuch empfangen. Die Unsicherheit im Krankenhaus, wie man weiter umgehen müsse bzw. könne, war spürbar, aber nicht beunruhigend. Das sind die Momente, in denen das Glück, in Österreich zu leben (wie so oft) wieder greifbar ist.

2 Das berührt die uralte Frage, ob wir aus der Geschichte lernen. Ich halte es da eher mit Philipp Blom, der meint, dass wir nur aus Traumata lernen, und diese hätten eine Halbwertszeit. Wie tief das Trauma wird, ist aber noch nicht absehbar. Inwieweit also sowohl die Individuen, als auch die Politik ihre Wertmaßstäbe, die unsere Lebensführung prägen, hinterfragen und ändern, ist offen, und meine Hoffnung auf Kurskorrekturen hält sich in Grenzen. Die absehbarste Änderung betrifft wohl den unglaublichen Schub an Digitalisierung in den Schulen und der Arbeitswelt. Meine größte Sorge gilt der Zahl der Existenzvernichtungen unternehmerisch tätiger Menschen und davon Abhängiger, sowie der weiteren offenen Entsolidarisierungen innerhalb der Europäischen Union. Und wieder scheint es, als wären unsere humanitären und rechtsstaatlichen Standards Bedrohungsszenarien nicht wirklich gewachsen.

3 Die Frage ist offenbar der Ex-Politikerin gestellt, denn ›angestammt‹ bin ich Juristin. Ich glaube, dass weder die Rolle noch die Funktion der Politik verändert wird, sondern dass sie sowohl den unmittelbar Betroffenen deutlicher und spürbarer geworden ist, als auch den mittelbar Betroffenen, den WählerInnen. Ich hoffe, dass Letzere vor ihrer nächsten Stimmabgabe mehr bedenken als bisher. Aber auch hier hält sich mein Optimismus deutlich in Grenzen. Wer den jeweiligen Egoismus besser schützt, wird wohl auch künftig erfolgreich sein. Man wird daher auch in Zukunft stark dagegenhalten müssen! Und dass es gar nicht so wenige sind, die dazu bereit sind, zeigt diese Krise ebenfalls.

Deborah Sengl
Künstlerin

1 Die allgemeine Situation ist zweifelsohne sowohl gespenstisch wie auch sehr beunruhigend. Allerdings erzeugt die Stille auch ein neues Lebensgefühl in der Großstadt: Noch nie habe ich so viele unterschiedliche Vogelstimmen in den frühen Morgenstunden wahrgenommen. Der Ausnahmezustand macht mir schon am dritten Tag deutlich bewusst, wie sehr uns der anthropogene Lärm dominiert (hat).

2 Die existentiellen Folgen dieser weltweiten Krise werden uns alle ausnahmslos treffen. Besondere Sorgen mache ich mir allerdings um die vielen Menschen, die ohnehin ein sehr prekäres Leben führ(t)en. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass der Mensch aus Erfahrungen leider nicht wirklich klüger wird. Ich bin eine positive Pessimistin. Deshalb habe ich dennoch die Hoffnung, dass uns diese erzwungene Isolationszeit zum Nach- und Umdenken bringt. Vielleicht lernen wir endlich daraus, mehr auf unsere Nächsten zu achten und statt gedankenloser Globalisierung mehr sinnvolle Nachhaltigkeit walten zu lassen.

3 Ich merke jetzt schon eine nachvollziehbar große Verunsicherung in meiner Branche. Kunst wird generell von einem eher überschaubaren Publikum konsumiert, und der Großteil meines Berufsstandes lebt in ökonomisch sehr unsicheren Verhältnissen. Aber auch hier bin und bleibe ich hoffnungsvoll. Ich vertraue auf eine Verschiebung der Werte zum Besseren und darauf, dass unser ganz besonderer kritischer wie kreativer Blick auf die Welt an Bedeutung gewinnen wird.

Johannes Stangl
Umweltaktivist

1 Die Solidarität und ihre Feinde: Inspiriert von den Balkonmusikant*innen aus Italien, sollte auch in Österreich am Sonntag, 15.3. um 18 Uhr ein Freiluftkonzert stattfinden. Euphorisch probten wir in der WG Lieder von ›Stayin’ Alive‹ bis ›Don’t worry‹. Als es dann zum Auftritt kam, erreichte uns zunächst begeisterter Applaus, bis schließlich ein Nachbar aus dem Fenster schrie: ›Balkone sind nicht zum Musikmachen da!‹ Das mit der Solidarität in Krisenzeiten müssen wir noch üben, liebes Österreich. Aber wenn wir das hinkriegen, wird sie unsere Superkraft auch im Kampf gegen alles andere, was es noch zu erledigen gilt.

2 Wir werden in vielerlei Hinsicht die alte ›Normalität‹ zurückgelassen haben. Wir werden erkannt haben, dass unser allein auf profitmaximierende Effizienz getrimmtes Weltwirtschaftssystem mit seinen globalen Just-In-Time-Lieferketten keine Resilienz im Krisenfall besitzt. Daher werden Wirtschaftskreisläufe wieder lokaler und kleiner gedacht. Neue Kreislaufwirtschafts-Indikatoren erlauben uns eine ehrlichere Bewertung wünschenswerter Wirtschaftsaktivitäten. Viele Wertigkeiten des alten Systems werden hinterfragt worden sein. Die Frage ›Was braucht es eigentlich für ein gutes Leben für alle?‹ wird im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses stehen. Utopie, sagen Sie? Nur wenn wir uns jetzt nicht dazu aufraffen, die Krise als Chance zu begreifen und das Beste aus ihr zu machen. Die alte Welt hat für viel zu viele Menschen ohnehin nicht funktioniert und wäre spätestens mit dem Verfehlen aller Klimaziele passé. Zeit, eine neue zu errichten.

3 #NetzstreikFürsKlima – Der Klimastreik wird auf den digitalen Raum verlegt. Fridays For Future mobilisiert nun von zu Hause aus gegen die fossile Industrie und untätige Regierungen. Von letzteren wissen wir ja jetzt, dass sie Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung umsetzen können,wenn sie wollen.

Matthias Strolz
Autor, Publizist, Unternehmer und ehemaliger Politiker

1 Es war die Permanenz des Ungewöhnlichen. Wir haben uns familiär im #CorCooning-Modus eingerichtet – das gute Wetter hat sehr geholfen. Jetzt wird es kalt und feucht, mal schauen. Ich bin außerdem unternehmerisch am Umrüsten – vier Monate Regulärumsatz brechen weg. Ich fühle mich als kleiner Tausendfüßler; gehe weiter auf anderen Beinen, die nun zu Spielbeinen werden.

2 Ich bin ein Kind der Zuversicht. However: A) Wir werden Wunden lecken – riesige Budgetlöcher, wirtschaftliche Tragödien (massenhaft Insolvenzen), politische Verwerfungen quer über den Globus und auch bei uns in Europa. B) Wir werden gesundheitlich die erste Corona-Welle in Europa abgeschlossen haben und heftige Kämpfe führen, damit es keine zweite und dritte Welle gibt. C) Wir werden in wilden politischen Verteilungskämpfen sein, weil die Budgetspielräume sehr eng sein werden. D) Die Digitalisierung wird in allen Lebens- und Gesellschaftsbereichen einen Schub erhalten haben, der bislang unvorstellbar war. E) Wir werden einen Ausbruch an Kreativität und Mitmenschlichkeit haben. Auf den Ruinen des Alten werden wir Steine herausgetragen, um großartiges Neues zu bauen. F) Wir sind in einer Aufbruchsphase.

3 Was es mittel- bis langfristig bedeutet, ist offen. Als Keynoter bin ich lahmgelegt. Als Autor für Lesungen tot, aber ansonsten wird hoffentlich (mehr) gelesen. Als Publizist und homo politicus bin ich plötzlich wieder sehr aktiv – mit medialen Auftritten und hoher Social-Media-Präsenz. Als Mit-Anpacker bei der digitalen Plattform story.one bin ich plötzlich täglich eingedeckt mit neuen Herausforderungen. Wir wachsen gewaltig in Reichweite und Relevanz.

Barbara Teiber
GPA-Vorsitzende

1 Als Gewerkschaft waren wir in vielerlei Hinsicht massiv gefordert. Das Coronavirus hat sowohl massive gesundheitliche als auch wirtschaftliche Auswirkungen. In unserer Telefonberatung sind Sorgen bezüglich beidem aufgeschlagen. Wir waren mit weinenden Beschäftigten konfrontiert, die von der Situation verängstigt und überfordert waren, besonders im Handel, wo Läden gestürmt wurden, war die Situation Anfang letzter Woche haarsträubend. Wir haben dann schnell Forderungen entwickelt, die die schlimmsten Effekte abfedern sollten, und Kontakt zu Sozialpartnern und Regierung aufgenommen. Wir haben starke Solidarität erlebt, aber auch Gier und blanken Egoismus. Wir erleben Arbeitgeber, die sich bemühen, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu halten, und Arbeitgeber, die sofort alle rausschmeißen. Schnell ist klar geworden: In der Krise zeigt sich der wahre Charakter.

2 Ich bin jedenfalls zuversichtlich, dass wir alle gemeinsam diese Krise meistern werden. Nach der Intensivphase der Pandemie wird es jedoch erhebliche Nachwirkungen für die Wirtschaft geben. Ziel muss sein, möglichst schnell eine Konsolidierung des Arbeitsmarkts zu erreichen. Wir werden als Gewerkschaften und Sozialpartner unsere Verantwortung jedenfalls weiter wahrnehmen und unser Möglichstes dazu beitragen, dass so viele Arbeitsplätze wie möglich gerettet werden.

3 Gewerkschaften spielen besonders in Krisen eine wichtige stabilisierende Rolle. Man sieht, wie wichtig die Sozialpartnerschaft ist, um die uns seit Jahrzehnten etliche Länder beneiden und die in den letzten beiden Jahren von Schwarzblau in den Hintergrund gedrängt wurde. Diese Krise zeigt, wenn es darum geht, schnell und pragmatisch brauchbare Lösungen für Arbeitgeber und Beschäftigte zu finden, ist das nur gemeinsam möglich.