Erst die Macht, dann die Moral

·
Illustration:
Blagovesta Bakardjieva
DATUM Ausgabe November 2021

Ich tu das alles nur für den Bua.‹ Die Geschichte ist gut und dürfte sich so abgespielt haben, wie sie seit vier Jahren kolportiert wird. Gänzlich aus der Luft gegriffen kann sie im Licht dessen, was folgte, nicht gewesen sein: Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ist 2017 in Israel zu Besuch. Dort erreicht ihn ein Telefonat. Als er es beendet, wirft er ebendiesen Satz in die Runde.

Was Sobotka ›alles‹ für den Bua tut, ist zu diesem Zeitpunkt schon auffällig: Vorerst Verweigerung der Unterschrift unter das Arbeitsprogramm Kern-Mitterlehner, ständige Kritik an der Koalition als deren Innenminister. Was aber ›alles‹ bezweckt, sollte erst später klar werden. Im Mai 2017 verstummte Sobotka von einem Tag auf den anderen: ›Alles‹ war erreicht, Reinhold Mitterlehner aus der övp gedrängt. Der ›Bua‹, Sebastian Kurz, hatte die feindliche Übernahme der övp beendet. Wenn nun eine Landeshauptfrau, fünf Landeshauptmänner und eine Ethikkommission die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, ob der Hybris und der primitiven Töne im ›Team Kurz‹, so ist das eine Heuchelei der Sonderklasse. Sie alle waren 2017 bereits im Amt, konnten den Hochmut sehen und die Zeichen der Überschätzung erkennen.

Spätestens als Sebastian Kurz im Juli 2019 bei einem Treffen fundamentaler Christen in der Wiener Stadthalle mit den Worten ›Oh Herr, wir danken dir für diesen Mann‹ gesegnet wurde, hätten sie hellhörig werden müssen. Da war der Freudenrausch über die Wiedereroberung der Kanzlerschaft wohl schon verflogen. Da war das erste Projekt ›Ballhausplatz‹ mit der fpö bereits gescheitert. Man hätte damals Kurz klar machen können, was seriöse Politik für die övp eigentlich bedeutet. Ein ernstes Wort hätte vielleicht genügt. Nicht öffentlich. So viel Courage muss nicht sein.

Jetzt geben Funktionäre der ›alten‹ övp die moralisch Entrüsteten und lassen sich als Retter der Stabilität und der Regierung feiern. Plötzlich haben sie das ›ungute Bild‹ gesehen, das die övp abgab. Damit hätten sie vielleicht noch leben können. Mit dem Machtverlust bei der Gemeinderatswahl in Graz und dem kleinen Zugewinn bei der Landtagswahl in Oberösterreich nicht. Kurz war kein Garant für fulminante Wahlsiege mehr. Zuerst kommt die Macht, dann die Moral.

Es liegt nun an dieser Führungsschicht, die Unterwerfungsstatuten, die sie Kurz so bereitwillig zugestanden haben, zu revidieren, wollen sie die Reputation der övp retten. Ein Hermann Schützenhöfer, der plötzlich niemanden gekannt haben will; eine Johanna Mikl-Leitner, die sich nur einer Video-Kamera aber keinen Fragen stellte; ein Günther Platter, der sich voll hinter Kurz stellte, um sich prompt zu distanzieren – sie und die anderen Länderchefs müssen Kurz jetzt vor allem eines klar machen: Er hat seine Funktion des Klubchefs professionell auszufüllen, was Präsenz im Nationalrat und in den notwendigen Sitzungen etc. bedeutet. Ob ihm das behagt oder nicht. Oder sie zurückzulegen.

Die Führungsschicht der övp trifft eine Mitschuld. Die Misstöne der politischen Boy Band waren nicht zu überhören. Dem wird sie sich stellen müssen. Zuerst kommt die Ehrlichkeit, dann die Macht.

Plötzlich tauchen in der övp Erzählungen über unangemessene Interventionen vor Jahren auf. Sie waren bekannt. Niemand hat reagiert. Franz Fischler will jetzt schon vieles geahnt haben. Plötzlich soll sich ›die övp‹ entschuldigen (Maria Rauch-Kallat). Nur, wer ist ›die övp‹, wenn nicht ihre Funktionsträger? Damit wird deren individuelle Verantwortung verwischt. Es gibt auch in der Politik die ›culpa in eligendo‹, das Verschulden bei der Auswahl. Der Wahlsieg von 2019 schien das zu überdecken, das Schweigen und den letzten Jubelparteitag im August zu rechtfertigen. Zuerst kommt der eigene Platz im Machgefüge, dann der Anstand.  •