Kitzbühel am Plattensee

Am Balaton zeigt sich, was Viktor Orbáns Regierung von Umweltschutz und Klimapolitik hält.

DATUM Ausgabe Juni 2024

Es raschelt fast unmerklich im Gebüsch. Die wackelnden Spitzen der hohen Grashalme lassen erkennen, dass sich hier etwas Kleines seinen Weg durch die Wildnis bahnt. Ein braun gestreiftes Wildschwein-Baby tapst in eine lichte Stelle. ›Kurva! Wir müssen abhauen, das ist gefährlich‹, sagt Balázs Juhász und stapft schnellen Schrittes in die entgegengesetzte Richtung. ›Falls die Mutter kommt.‹ Keine zwei Minuten später kreuzen drei Rehe vor ihm den Trampelpfad.

Durch das Vogelzwitschern und Blätterrauschen dringt aus einiger Entfernung dumpf das Surren von Baggern und das Knirschen ihrer Schaufeln.

Balázs Juhász lebt in Tihany, seit er sechs Jahre alt ist. Dort, wo heute Wildschweine wohnen und Bäume ein Laubdach über ein Gestrüpp aus verlorenen Ästen spannen, hat er in seiner Jugend Reiten gelernt. Vor 40 Jahren waren die Kenderföldek – auf Deutsch Hanffelder – noch eine Wiese ohne Wald, dafür mit Reitstall. In das heutige Dickicht könnte nun wieder ›Ordnung‹ einziehen. Der grüne Streifen Wildnis an der Küste der Halbinsel soll einem Villenviertel weichen. ›Was da abgeht, ist unserer Meinung nach eine Schweinerei‹, sagt Juhász. Und alles nur für das große Geld und einen Blick auf das ›ungarische Meer‹, den Plattensee.

Am Balaton zeigt sich der problematische Umgang des Orbán-Regimes mit Umweltschutz und Klimapolitik wie sonst kaum wo in Ungarn. Oligarchen kaufen die Grundstücke an seinen Ufern auf, um ohne Rücksicht auf Artenvielfalt oder Natur Luxusimmobilien und Hotelkomplexe zu bauen. Neben dem ökologisch wichtigen Schilfgürtel schrumpfen auch die frei zugänglichen Uferabschnitte immer weiter. Gesetze sind zu lax oder werden flexibel ausgelegt, Transparenz gibt es kaum.

Ungeachtet dessen stürmen jedes Jahr in den Sommermonaten rund zwei Millionen Gäste die Städte am größten Süßwassersee Europas. Doch dem Ökosystem an der beliebtesten Urlaubsdestination der Ungarn geht es damit gar nicht gut. Denn Steppenseen, wie der Balaton oder auch der Neusiedlersee, sind wegen ihrer geringen Wassertiefe besonders sensibel gegenüber den Auswirkungen der Klimakrise.

Die durch Vulkanismus entstandene Halbinsel hat einen hohen ökologischen Stellenwert. Sie gehört zu einem Nationalpark, ist geschützt nach der Ramsar-Konvention über Feuchtgebiete und UNESCO-Welterbe-Kandidatin. Zwei Binnenseen, Lavendelfelder und malerisch grüne Hänge charakterisieren den Tropfen Land im Nordosten des Balaton. Wegen dieser Szenerie wurde Tihany zum ›Lieblingsdorf der ungarischen Regierungs-Elite‹, wie das Aufdecker-Medium Átlátszó schreibt.

›Tihany ist das Kitzbühel vom Plattensee‹, sagt ein ausländischer Geschäftsmann, der hier schon lange tätig ist, ›und wir leben inmitten dieser ganzen Bonzen‹. Auf den Hügeln der Insel kaufte Lőrinc Mészáros,  ein Kindheitsfreund Orbáns und mittlerweile der reichste Mann Ungarns, ein umgerechnet 1,3 Millionen Euro teures Wochenendhaus. Zum Vergleich: Der durchschnittliche Vollzeitangestellte verdient in Ungarn laut OECD im ganzen Jahr nur 13.705 Euro – also rund ein Hundertstel dieses Kaufpreises. Vor Tihanys Ufern sah man auch die ehemalige Justizministerin, Judit Varga, im Bikini Stand-up-Paddeln. Sie musste unlängst wegen der Begnadigung eines pädophilen Straftäters zurücktreten.

›Das ist Ungarn‹, würde Balázs Juhász sagen. Es ist ein Satz, auf den er gerne und häufig zurückgreift. Juhász hält den Widerstand gegen die Immobilien­projekte auf den fast 22 Hektar großen Kenderföldek zusammen, organisiert Demonstrationen und weiß viel zu erzählen über Bebauungsdichte und zulässige Gebäudehöhe, je nach Widmung. Gemeinsam mit seiner Mutter wohnt Juhász fünf Minuten entfernt von dem ehemaligen Moor. Die feuchte Erde unter seinen Schuhen zeugt von dieser Vergangenheit. Heute trennt eine Straße das Gebiet vom See. Die Kenderföldek haben eine bewegte Geschichte. Denn das Villenviertel ist nicht das erste große Bauvorhaben dort und wird, glaubt man Juhász, auch nicht das letzte sein.

Begonnen hat alles im Frühjahr 2021. Der langjährige Fidesz-Bürgermeister wollte auf den Kenderföldek ein Tourismusprojekt starten. Unter dem Namen ›Gate of Balaton‹ sollten ein Besucherzentrum und 200 Parkplätze errichtet werden. Direkt gegenüber eines bisher spärlich genutzten Parkplatzes. Gleichzeitig wollte das Bauunternehmen Cordia des ungarischen Milliardärs Péter Futó am anderen Ende des grünen Streifens ein Hotel und Wellnesscenter mit 120 Zimmern, einen Swimmingpool,
388 weitere Apartments und eine Sonnenterrasse, die durch den Schilfgürtel in den See hineinragt, verwirklichen. Auf einem Grundstück mitten in den Kenderföldek gab es noch ein drittes, vergleichsweise kleines Wohnprojekt.

Normalerweise können solche Vorhaben, haben sie einmal begonnen, in Ungarn maximal verzögert werden. Aber in Tihany passierte etwas Außergewöhnliches. Die Ungarische Vereinigung der Naturschützer reichte Klage gegen die Genehmigung des ›Gate of Balaton‹ ein. Und bekam Recht. Die Voruntersuchung, ob eine Umweltverträglichkeitsprüfung nötig ist, hatte nur aus einer einseitigen Tabelle bestanden, die noch dazu den Fakten widersprach. Die Genehmigung sei damit ›schwer illegal‹ und der gesamte Prozess müsse wiederholt werden, hielt das Gericht im Urteil fest. Daraufhin wurde die 2,5 Millionen Euro schwere Förderung der nationalen Tourismusbehörde wieder zurückgezogen und das Projekt endete, bevor es begonnen hatte. Auch die Cordia-Pläne wurden auf Eis gelegt. Aber dass es damit vorbei wäre, hat Balázs Juhász nie geglaubt.

Tatsächlich liegt nun ein neuer Vorschlag auf dem Tisch, das riesige Resort soll in kleinere Grundstücke parzelliert werden. Laut dem aktuellen Entwurf will Cordia 32 Villengebäude auf rund einem Viertel der Kenderföldek in die Höhe ziehen. Um auf dem sumpfigen Gebiet überhaupt bauen zu können, müsste eine erhebliche Menge Erde aufgeschüttet werden, denn die Kenderföldek befinden sich gut eineinhalb Meter unter Seeniveau.

›Mein Grundstück wird zu einem Teich werden‹, beklagt sich Janos, der direkt hinter dem Areal wohnt. In Jogginganzug und Crocs poliert der Angler gerade den Rumpf seines Boots. Durch die Aufschüttung gehe neben dem Lebensraum der Tiere auch ein wichtiger Wasserspeicher verloren, sagt er. Stattdessen sammle sich der Niederschlag dann in seinem Garten, der noch tiefer liegt. Zsófi, die ein paar Häuser weiter wohnt, teilt seine Sorge. Sie befürchtet, dass jetzt auch die Ruhe in den touristenfreien Wintermonaten vorbei ist. Klárika spaziert mit ihrem Hund entlang der Baustelle und hat nur ein Wort dafür übrig: ›Katastrophe.‹

Dass der Rückzug der ursprünglichen Ferienresort-Pläne just passierte, als eine UVP für das Projekt angeordnet wurde, legt für Balázs Juhász den Verdacht nahe, dass die Bauherren einen Strategiewechsel auf Salami-Taktik vollzogen haben – um scheibchenweise ihre Vorstellungen zu realisieren und damit auch die UVP zu umgehen. ›Okay, wir haben die Villen gebaut, aber wir brauchen einen Weg zum Balaton. Okay, den dürft ihr bauen. Gut, aber wir haben keinen Strand. Dürfen wir auch einen Pfad durch das Schilf schneiden? Ja, dürft ihr. Und die Sonnenterrasse? Ja, dürft ihr. Dauert 20 Jahre, aber am Ende gehört alles ihnen‹, sagt Juhász.

Das Schicksal der Kenderföldek ist am Balaton kein Einzelfall. Am gegenüberliegenden Ufer hat Orbáns Schwiegersohn István Tiborcz etwa eine Hotelanlage samt Vergnügungspark namens ›BalaLand‹ errichtet. Gelbe Sonnenschirme stecken wie Zahnstocher im Rasen vor dem Bau. Der öffentliche ›Strand‹ wurde auf einen drei Meter breiten Streifen reduziert, eingezäunt zwischen Hotel und Privatgrundstück. In allen vier Himmelsrichtungen gibt es ähnlich große Investitionen, und die gehen am Plattensee nicht spurlos vorüber.

Wenn man Viktor Tóth vom Limnologischen Institut in Tihany fragt, wie es dem Balaton geht, kratzt er sich am Kopf. ›Das ist keine leichte Frage. Den kleinen Zeh am linken Fuß zu amputieren, ist nicht tödlich, aber immer noch drastisch genug‹, sagt der Forscher, der sich mit der Ökologie des Plattensees beschäftigt. Seit entschieden wurde, dass der See vor allem für Tourismus und Freizeit da sei, entstünden sehr viele Probleme. Dass Hotels und Privathäuser so nah wie möglich ans Wasser rücken, sei eines der größten.

›Es gibt keinen natürlichen Übergang mehr zwischen Ufer und Land, keine Büsche, kein hohes Gras, nur mehr sauber gezüchteten, fünf Zentimeter hohen Rasen mit null Biodiversität‹, kritisiert Tóth. Wenn es so weitergehe, werde aus dem Balaton ein riesiger Swimmingpool, für dessen Erhaltung wahrscheinlich chemische Behandlung notwendig sei. Denn die natürliche Filteranlage des Balatons, der Schilfgürtel, ist auf dem Rückzug. Laut Tóth gibt es am Plattensee momentan knapp 1.400 schmale Stege, die mitten durch die Schilffelder schneiden, um Anrainern einen Badeplatz zu sichern. Zwei Drittel davon seien illegal. Die Fragmentierung dieses Biodiversitäts-Hotspots zerstöre die natürlichen Lebensräume von besonders vielen Arten, erklärt der Limnologe: ›Ein Zwei-mal-zwei-Meter-Bett ist gemütlich, aber niemand würde sich auf zehn 20-Zentimeter-Betten legen.‹

›Der Plattensee verträgt die ganzen Menschen einfach nicht‹, meint Zoltán Kun, Präsident der ›Great Lakes Coalition‹, die sich dem Schutz der ungarischen Seen verschrieben hat. Touristische Investitionen würden nur auf ihre lokalen Auswirkungen geprüft, die kulminierten Folgen für den See fallen unter den Tisch. Kun will auf politischer Ebene entgegenwirken. Zusammen mit einer Bürgerrechtsorganisation hat er deshalb einen Monat vor den ungarischen Kommunalwahlen am 9. Juni das Programm ›Balaton Green Minimum‹ veröffentlicht, das sich an die Politiker am Plattensee richtet.

›Das Green-Minimum-Programm zeigt den Bürgermeisterkandidaten ihre rechtlichen Möglichkeiten, um sofort zum Überleben des Sees beizutragen‹, sagt Nora Aujeszky, eine Juristin, die am Dokument führend mitgearbeitet hat. Zu den sechs ökologischen Forderungen gehören ein Ausgleichsmechanismus für Flächenverbrauch am See und die Ausweitung der Uferschutzzone von 30 auf hundert Meter. ›Das Grundproblem ist, dass Gemeinden versuchen, Einnahmen zu generieren, indem sie Investoren anziehen, die wiederum den Balaton zerstören. Dahinter stecken oft gar keine bösen Absichten, aber das interessiert den See natürlich nicht‹, sagt Aujeszky.

Zu dieser Gemengelage kommt hinzu, dass die Klimakrise seit einigen Jahren starke Auswirkungen auf den Balaton hat. Der See hat sich bereits um mehr als 1,5 Grad erwärmt, was dazu führt, dass Nährstoffe, die grünliche Algenteppiche an der Wasseroberfläche verursachen, nicht mehr von außen eingetragen werden, sondern vom Grund des Sees aufsteigen. Im pessimistischsten Klima-Szenario wäre der Balaton ab 2035 nicht mehr zum Baden geeignet, bis 2050 könnte er austrocknen. ›Wir werden nicht wie bei »Godfather« einen abgetrennten Pferdekopf auf unserem Kopfkissen finden. Die Anzeichen sind viel subtiler, aber in ihrer Gesamtheit sehr bedrohlich‹, sagt Limnologe Tóth und warnt: ›Wenn wir nicht bald handeln, erreichen wir in den nächsten drei Jahren eine irreversible Phase.‹

›Klimapolitik ist in Ungarn quasi non-existent‹, sagt ein ungarischer Policy-Experte, der bei einer europäischen Klima-Initiative arbeitet. Er ist der Redaktion bekannt, will aber nicht namentlich genannt werden, weil seine Organisation noch in Ungarn aktiv ist. ›Die Orbán-Regierung versucht die Anforderungen der EU gerade so zu erfüllen, aber das sind hauptsächlich Papiertiger, ohne echte Auswirkungen.‹ Das Klimaschutzgesetz von 2020 sei ein super Beispiel dafür, meint István Bart, Senior Fellow für Klimapolitik am ungarischen Equilibrium-Institut: ›Dort steht, dass Ungarn bis 2050 klimaneutral sein will, aber das ganze Dokument ist nur eineinhalb Seiten lang. Keine detaillierten Pläne, keine Zeitreihe, keine Maßnahmen. Das kann man nicht ernstnehmen.‹

Ungarns langjähriger Premierminister Orbán hat eine ambivalente Beziehung zum Thema Klimakrise. 2020 nennt er den Klimaschutz noch eine ›patriotische und christliche Pflicht‹, ein Jahr später sind die EU-Klimaziele für den Fidesz-Parteichef ›utopische Fantasien‹. ›Klimaschutz ist nur Priorität für die Regierung, wenn es um die öffentliche Meinung geht‹, sagt Bart. Es gibt in Ungarn kein Ministerium für Klimaschutz oder Umwelt, nur einen dafür zuständigen Sekretär im Energieministerium. Zwei akzeptable Entwicklungen gebe es aber: den Ausbau von Solarenergie und Elektroautos. ›Aber auch hier steuert das Geld die Politik und nicht umgekehrt‹, sagt István Bart. Viele Oligarchen hätten vom Solar-Ausbau profitiert.

›Money talks‹, sagt Dalma, eine Ökonomin, während sie auf die ameisengroßen Bagger hinunterblickt. Von ihrem Haus auf den Hügeln von Tihany  aus ist die Baustelle auf den Kenderföldek gut zu sehen. Die Ungarin ist 2018 mit ihrer Familie aus London wieder auf die Halbinsel gezogen – wegen der schönen Landschaft. Jetzt engagiert sie sich mit Balázs Juhász gegen die Verbauung des Grünstreifens. Vor allem eines stört Dalma: ›Wenn das Projekt wirklich gut für uns ist, warum wissen wir dann so wenig darüber?‹ Es gebe keine frei einsehbaren behördlichen Dokumente.

›Ja, es besteht generell ein Transparenzproblem‹, bestätigt die Juristin Aujeszky. Zwar existiere eine Website, auf der die Papiere theoretisch verfügbar sind, aber in der Praxis ähnle das System mehr einem Labyrinth. Auch bleiben nach der ›Veröffentlichung‹ nur 30 Tage Zeit, um Beschwerde einzubringen. ›Wenn die Behörden eine Sackgasse wollen, dann gibt es eine Sackgasse‹, sagt Juhász.

Warum aus dem Viertel Kenderföldek bisher noch kein Villenviertel geworden ist, hat einen einzigen Grund: Das Gebiet wurde jahrzehntelang als Müllhalde der Halbinsel missbraucht. Das Bauunternehmen Cordia musste sich dazu verpflichten, das Gebiet vor der Bebauung zu säubern. Erde und Sperrmüll laufen durch einen Schredder und werden zu Auffüllmaterial. Zu großen Schutt holen die LKWs.

›Wir warten ab und lauern, mehr können wir eh nicht tun. Wenn sie einen Fehler machen, dann werden wir da sein‹, sagt Balázs Juhász. ›Aber wenn sie das Grundstück wirklich aufteilen dürfen, dann können wir nichts mehr tun.‹ Denn mit der Umweltverträglichkeitsprüfung entfällt auch das Mitspracherecht der Zivilgesellschaft im Verfahren.

Doch Dalma hat den Kampf um die Kenderföldek noch nicht aufgegeben. Sie ist überzeugt, das Villenviertel noch verhindern zu können und schlägt alternative Nutzungen vor, wie einen naturbelassenen Park oder das Areal und sein trockengelegtes Schilf wieder mit dem See zu verbinden. Zsófi, am Fuß des Hügels, wirkt weniger optimistisch. ›Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir das Projekt maximal noch verkleinern können. Es komplett verhindern zu wollen, ist hoffnungslos.‹ Warum? ›Das ist Ungarn‹, übersetzt Balázs Juhász knapp. Ist das Ungarn oder Orbán? ›Ein bisschen von beidem.‹ •

Sie können die gesamte Ausgabe, in der dieser Artikel erschien, als ePaper kaufen:

Diese Ausgabe als ePaper für € 6,00 kaufen