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2018: Wir Besseren

Die Moral ist mit voller Wucht zurück. Sie sagt uns, wer wir sind – und vor allem, wer nicht.

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Illustration:
Andrea Settimo
DATUM Ausgabe Juli/August 2024

Irgendwann im Jahr 1968, zum Beispiel. Ein rechtschaffener bürgerlicher Mann trug zu jener Zeit Hosen mit akkurater Bügelfalte, ließ sich von seiner Gattin bedienen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und ging sonntags meistens in den Gottesdienst. Erwischte so jemand seine minderjährige Tochter beim Kiffen und Knutschen mit einem langhaarigen Burschen, konnte es gut sein, dass er die Fassung verlor. ›Wie kannst du nur so etwas tun!‹, würde er brüllen. Jeden Tag mit einem anderen rummachen, schreckliche Musik hören, illegale Rauschmittel konsumieren, womöglich gar Sex haben, ohne verheiratet zu sein – ›Das darf man nicht! Das ist unmoralisch! Man kann sich nicht einfach alles erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen? Daran, was das für deine Eltern bedeutet, für den Ruf deiner Familie, für alles, was wir aufgebaut haben? Stell dir vor, alle jungen Leute würden sich so benehmen wie du – Sitte und Anstand würden den Bach runtergehen, Sodom und Gomorra ausbrechen, alles kaputtgehen, was uns heilig ist. Hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹

Hinter der Geschichte

Benedikt Narodoslawsky hatte mir ein Buch empfohlen: ›The Righteous Mind‹ von Jonathan Haidt. Ich hab’s damals gelesen und viel darüber nachgedacht. Die Kernthese ließ sich auf viele Fragen anwenden,
die mich zu der Zeit beschäftigten: das Flüchtlingsthema, die Klimabewegung, aber auch unser Familienurlaub in den USA, wo wir in Dörfern der Amischen unterwegs waren. Ich sah plötzlich vieles
in neuem, interessantem Licht. Mir gefällt der Text auch heute noch. Das Moralisieren hat sich seither sogar noch weiter verschärft, die Dynamiken in den Sozialen Medien drängen einen ständig dazu, Position für eine Seite zu beziehen. Einzig den Titel des Artikels finde ich heute problematisch. Seit ich in der Politik bin, könnte er falsch gelesen werden. Mit ›Wir‹ waren nie die Grünen gemeint, sondern wir alle! 

Ich habe als freie Autorin viel für DATUM geschrieben. Am meisten bleibt mir eine lange Interviewserie in Erinnerung, die ich mit interessanten Persönlichkeiten über die großen Themen des Lebens geführt habe. Heute bin ich Abgeordnete zum Nationalrat und Bildungssprecherin der Grünen.

Sibylle Hamann

Ein ganz ähnlicher Dialog könnte heute, 50 Jahre später, wieder stattfinden. Zum Beispiel dann, wenn eine junge Frau, stramme Veganerin, nach längerer Zeit wieder mal in ihr Elternhaus zu Besuch kommt und ihren Vater dabei beobachtet, wie er genüsslich sein Billigschnitzel aus dem Supermarktimbiss verzehrt. Gut möglich, dass auch sie da die Fassung verliert. ›Wie kannst du so etwas tun!‹, würde sie ihn anschreien. Jeden Tag Fleisch, jeden Tag Wachstumshormone, Antibiotika, Düngemittel, jeden Tag Tierquälerei, Tiertransporte, Tierleid – ›das darf man nicht! Das ist unmoralisch! Man kann sich nicht einfach alls erlauben, worauf man grad Lust hat! Du bist ja nicht allein auf der Welt! Denkst du denn gar nicht an die Folgen! Daran, was das für den Regenwald bedeutet, für das Klima, für unsere Böden, für die Artenvielfalt? Stell dir vor, alle acht Milliarden Menschen auf der Welt würden sich so verhalten wie du – der ganze Planet samt der menschlichen Zivilisation wäre längst den Bach runtergegangen, alles geht kaputt, hast du denn gar kein schlechtes Gewissen dabei?‹

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Wörter: 2935

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