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Der Fall Zirngast

Max Zirngast nennt sich Sozialist, die Türkei nennt ihn Terrorist. Und das offizielle Österreich: schweigt.

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Fotografie:
Diego Cupolo
DATUM Ausgabe Februar 2019

10. Jänner 2019, eine Turkish-Airlines-Maschine

›Die Türkei‹, sagt Barbara Zirngast, 58, ›ist ein wunderschönes Land.‹ Sie blickt durch die ovalförmige Luke einer Boeing 737. Unter ihr ziehen die verschneiten Gebirgszüge Anatoliens vorbei. Barbara Zirngast sitzt in der vorletzten Reihe und bestellt Schwarztee mit Zucker, während ihr Mann in der Zeitung blättert. Der Flug war günstig, weil niemand auf die Idee kommt, im Jänner einen Wochenendtrip nach Ankara zu buchen, der grauen und schmucklosen Verwaltungshochburg der Türkei. Familie Zirngast hat vier Koffer im Gepäck, gefüllt mit Geschenken aus österreichischen Supermärkten: Schokoladenherzen, Sojamilch, Brezeln, Lebkuchen und ein in Vakuum eingeschweißtes, veganes Schnitzel. Der Vater hat ein Lucky-Luke-Heft oben draufgelegt, die Mutter eine Packung Männersocken und einen Kleiderhaken für das Badezimmer. Jetzt stehen sie auf einer Rolltreppe am Flughafen Ankara, und Barbara Zirngast sagt, dass sie wie immer nervös ist, wegen der Passkontrolle. Sie hat allen Grund dazu. Das Land, in das sie gerade einreist, wirft ihrem Sohn vor, ein Terrorist zu sein. Max Zirngast – Journalist, Student, österreichischer Staatsbürger – drohen bis zu sieben Jahre Haft. Seine Eltern sind gekommen, weil er übermorgen Geburtstag hat. Er wird 30 Jahre alt.

Barbara Zirngast ist zum siebten Mal in Ankara, jener Stadt, in der ihr Sohn bis vor Kurzem in einem Hochsicherheitsgefängnis gesessen ist. Vor dem Flughafen wartet ein privates Taxiunternehmen. Sie kennt die Fahrer beim Vornamen, wechselt einige Brocken Türkisch mit ihnen. Der Wagen fährt an Moscheen, Hochhäusern und Erdoğan-Plakaten vorbei, immer weiter stadteinwärts, bis das Auto einen braunen Betonkoloss passiert, auf dem eine türkische Fahne weht. Dort drinnen, im Justizpalast von Ankara, wird sich die Zukunft von Barbara Zirngasts Sohn entscheiden. Am 11. April beginnt sein Prozess. Die türkische Staatsanwaltschaft sagt: ›Max Zirngast ist Teil einer illegalen, bewaffneten Terrororganisation.‹ Seine Mutter sagt: ›Mein Sohn ist ein friedliebender und geduldiger Mensch.‹ Rechtsexperten sagen, dass die Vorwürfe gegen Zirngast an den Haaren herbeigezogen scheinen. Wer verstehen will, warum Max Zirngast dennoch angeklagt ist, muss den Staat, in dem er drei Jahre lang gelebt hat, unter die Lupe nehmen. Und er muss versuchen, Zirngast, der aus diesem Staat nicht ausreisen darf, zu verstehen. Was hat dieser Mann getan, dass ihn die Türkei wie einen Schwerverbrecher behandelt?

Das Auto hält vor einem hellen Backsteingebäude mit Gegensprechanlage, das an einen Hügel gebaut ist. Es surrt. Dann tragen die Zirngasts ihre schweren Koffer drei Stockwerke nach unten. In der Türe steht ein großgewachsener, schlanker Mann mit Hauspantoffeln an den Füßen. ›Hallo Barbara‹, sagt er zu seiner Mutter, bevor sie ihm um den Hals fällt.

Die Familie Zirngast kommt aus einem kleinen Dorf in der Steiermark. Der Vater ist Bauingenieur, die Mutter Chemotechnikerin. Als ihr Sohn zum Studium nach Ankara geht, besuchen sie ihn immer wieder. Er zeigt ihnen den Campus seiner Universität, den Basar, die Zitadelle auf einem Hügel über der Stadt. Bis der 11. September 2018 ihre Welt auf den Kopf stellt. Der Tag, als die Anti-Terror-Polizei ihrem Sohn Handschellen anlegt. ›Mach dir keine Sorgen, in drei bis vier Tagen ist er wieder frei‹, schreibt Zirngasts Freundin seiner Mutter auf WhatsApp. Am Ende werden es drei lange, unerträgliche Monate sein.

Max Zirngasts Wohnung passt zu der Art, wie ihn Freunde beschreiben: ›Max ist Minimalist‹. Ein Schreibtisch, ein Bücherregal, ein Heizstrahler. Eine Gitarre, auf der er im Gefängnis geübt hat. Neben einer breiten Schiebetür, durch die man in einen kleinen Garten blickt, steht eine Sofalandschaft, auf der er jetzt mit seiner Mutter sitzt und Post sortiert, die das Gefängnis zurückgeschickt hat. ›Du glaubst doch selber nicht, dass das durchgegangen wäre, oder?‹ fragt Max Zirngast seine Mutter und hält eine aufklappbare Karte hoch, aus der ein tiefes ›Ho Ho Ho, Merry Christmas‹ ertönt. Er zieht die Augenbrauen hoch und sagt: ›Elektronik war im Gefängnis nicht erlaubt, sogar eine Armbanduhr wird bei der Übergabe auseinandergeschraubt.‹ Dann geht er in die Küche, um Linsensuppe zu kochen.

Im April, wenn der Prozess gegen Zirngast beginnt, wird sich medial alles um die Fragen drehen: Wer ist dieser junge Steirer und was wird ihm vorgeworfen? Es gibt aber eine Reihe weiterer Fragen, die interessant sind. Denn im Fall Zirngast geht es nicht nur um eine Familie, die ihren Sohn retten will, sondern um österreichische Außenpolitik, um hohe Diplomatie und darum, was ein europäischer Staat tun kann, wenn einer seiner Bürger in einem immer autoritärer werdenden Land festgehalten wird. Auch um eine Reihe von Vorwürfen wird es gehen, die von verschiedenen Seiten zu hören sind. Warum hat die Regierung in Wien den Fall Zirngast nicht stärker zum Thema gemacht? Zumal in einer Zeit, in der Österreich die EU-Ratspräsidentschaft innehatte?

Für Österreich ist Zirngast eine Zäsur. Er ist ein Frühwarnsignal dafür, dass es mittlerweile jeden treffen kann.

DATUM hat den Fall Zirngast über Monate verfolgt, Kontakt mit seiner Mutter Barbara aufgenommen und seine engsten Freunde begleitet. Die Recherche führte nach Wien, Zürich, Istanbul und Ankara. DATUM hat mit Anwälten, Diplomaten, ehemaligen Inhaftierten und Abgeordneten aus Österreich und der Türkei gesprochen. Drei Tage hat die Autorin dieses Textes in Zirngasts Wohnung in Ankara verbracht und lange Interviews mit ihm geführt. Die Botschaft in Ankara war zu keinem Hintergrundgespräch bereit, ebensowenig das Außenministerium in Wien. Die Pressestelle schreibt: ›Wir setzen uns weiterhin intensiv für Max Zirngast ein.‹ Auf Nachfrage heißt es am Telefon: ›Den Fall medial hochzuspielen, dient der Sache nicht.‹ Wenige Stunden vor Drucklegung dieser Ausgabe ruft die Pressestelle ein letztes Mal zurück. Dass es ›Ungereimtheiten‹ im Fall Zirngast gäbe, sei falsch und zurückzuweisen. Österreichische Oppositionspolitiker dagegen sagen: Die Regierung will die Beziehungen zur Türkei wegen eines Linken nicht unnötig aufs Spiel setzen. Bis Zirngasts Urteil gesprochen ist, wird es schwer sein zu beurteilen, wer recht hatte.

Max Zirngast sagt über sich selbst, dass er nicht gerne im Rampenlicht steht. Er ist auch keiner, der plakative Sprüche klopft, die sich gut auf den Titelseiten von Boulevardmedien machen. Zirngast spricht so, wie er es als studierter Politikwissenschaftler an der Universität gelernt hat – überlegt, verklausuliert, unaufgeregt. In diesem Ton hat er auch publiziert. Einer seiner Texte trägt den Titel: ›Die AKP als neuer Prinz: die Hegemonie des Finanzkapitals und ihre Widersprüche.‹ Und selbst jetzt, wo er richtig tief in der Klemme sitzt, weil ihm ein jahrelanger Prozess bevorstehen könnte, sagt er, ganz diplomatisch: ›In der Türkei ist mein Fall nichts Besonderes, weil die Inhaftierung von Oppositionellen auf der Tagesordnung steht.‹

Für Österreich hingegen ist Zirngast eine Zäsur. Und auch für Europa. Er ist ein Frühwarnsignal dafür, dass es mittlerweile jeden treffen kann. Menschen mit blonden Haaren ohne türkische Wurzeln. Akademiker, politische Aktivisten, Linke, Tierschützer, Feministen und Umweltschützer. Zirngast ist all das. Die Tatsache, dass ihn die türkische Justiz deswegen für einen Terroristen hält, muss Gleichgesinnte in Europa erschrecken. Doch die breite Solidarität bleibt aus. Es gibt keine großen Demonstrationen, keine Autokorsos, keine Diskussionssendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Es gibt keine Journalisten, die tagtäglich an ihn erinnern und seine Freilassung fordern. Die FPÖ, die nie eine Chance ausgelassen hat, innenpolitisch gegen ›Sultan Erdoğan‹ Stimmung zu machen, schweigt diesmal. Was, wenn ein Burschenschafter oder rechter Publizist in einem Land wie Venezuela inhaftiert worden wäre? Gäbe es dann eine politische Reaktion? Die österreichische Botschafterin in Ankara erklärt seiner Mutter, nicht für Zirngast zuständig zu sein, da er kein politischer Fall sei. Ist das, weil sich niemand die Finger verbrennen will an einem, der sich nicht festlegt, ob er nun Aktivist oder Journalist ist? An einem, der ›Genosse‹ sagt und ›Kapital‹? Oder ist es, weil manche glauben, es könnte an den Vorwürfen am Ende doch etwas dran sein? Zirngast hätte der österreichische Deniz Yücel werden können. Es kam anders. Warum?

›Weil ich für kein Mainstreammedium geschrieben habe und weil ich Sozialist bin‹, sagt Max Zirngast, während er nachts durch sein Viertel streift. In einer Stunde ist es Mitternacht, dann hat Zirngast seinen 30. Geburtstag. Aber er macht keine große Sache daraus. Wenn er zurück in die Wohnung kommt, gibt es weder Kuchen noch Ständchen. Beim Frühstück steckt seine Mutter drei Kerzen in einen Marmeladenkeks. Zirngast weiß nicht, ob seine Wohnung verwanzt ist und sein Smartphone abgehört wird. Er weiß nur, dass er monatelang beschattet wurde. Und das Gefühl der Überwachung bleibt. Deswegen der Spaziergang. ›Vielleicht denken die Leute in Österreich, ich laufe hier mit roten Flaggen herum‹, überlegt Zirngast. Er habe es nicht so mit Symbolen. Menschen, die sagen, dass morgen die Revolution beginnen werde, bezeichnet er als ›Quassler‹. ›Alle paar Minuten‹, sagt Zirngast, ›wird in der Türkei eine Frau geschlagen, und jeden Tag wird eine ermordet. Pressefreiheit ist unter Druck, und Menschen werden unter fadenscheinigen Begründungen entlassen oder eingesperrt.‹ Er holt kurz Luft und bleibt stehen: ›Wer in so einer Lage nichts Besseres zu tun hat, als über Stalin und Trotzki zu diskutieren, der hat den Blick auf die Realität verloren.‹ Und so gibt es eine Geschichte über Max Zirngast, den Autor, der Analysen über den türkischen Staat schreibt, der sich vor seinen Augen verwandelt. In was genau, das weiß weder Zirngast noch weiß es Europa. Aber die meisten sind sich einig, dass es keine Demokratie mehr sein kann. Und dann gibt es eine Geschichte über Zirngast, den Reformer, der sich in einer linken Bewegung engagiert hat, weil er glaubt, dass noch nicht alles verloren ist in der Türkei. ›Am Ende‹, sagt er, ›ist es ziemlich egal, ob ich Journalist oder Aktivist bin, weil es nichts daran ändert, dass ich nichts Strafrechtliches getan habe.‹

17. Dezember 2018, Mariahilferstraße Wien

Eine Woche vor Weihnachten liegt die singende Weihnachtskarte, die Barbara Zirngast ihrem Sohn ins Gefängnis schicken will, auf der Tischplatte eines Wiener Restaurants. Alp Kayserilioğlu, 31, und Johanna Bröse, 34, malen Herzen hinein. Keiner von ihnen weiß, dass Zirngast in ­genau einer Woche freikommt. Es wird alle überraschen – seinen Anwalt, seine Familie, seine Freunde und auch ihn selbst.

Dass er zu Weihnachten freikommt, überrascht alle: Seinen Anwalt, seine Familie, seine Freunde und auch ihn selbst.

Alp, ein Mittdreißiger mit Brille und Piercing in der Unterlippe, ist Max Zirngasts bester Freund. Gemeinsam mit Johanna hat er eine Solidaritätskampagne ins Leben gerufen und einen Twitter-Account angelegt. Kayserilioğlu ist eigentlich Politikwissenschaftler und schreibt Bücher, die Titel wie: ›Subjekt und Widerstand im Spätwerk Adornos‹ tragen. Er sagt: ›Max ist eine wandelnde Enzyklopädie.‹ Kennengelernt haben sich die beiden 2009 während des Philosophiestudiums in Wien. Sie nehmen an Studentenprotesten teil, besetzen Hörsäle und diskutieren über die Schriften von Hegel. Zirngast beginnt Türkisch zu lernen. Inzwischen beherrscht er die Sprache fließend. Kayserilioğlu, dessen Eltern aus der Türkei stammen, lacht: ›Max ist mehr Türke als ich.‹

2015 zieht Zirngast nach Ankara, um seinen Master in Politikwissenschaften zu machen. Gemeinsam mit Kayserilioğlu und einem Ökonomen in den USA beginnt er, Texte für linke Magazine und Sammelwerke zu schreiben. Sie tragen Titel wie: ›Überlegungen zum türkischen Referendum‹ oder ›Erdoğan ist nicht unbesiegbar.‹ Kayserilioğlu und Zirngast gehen auch auf Demonstrationen. Am 10. Oktober 2015 sitzen die beiden Freunde in einem Taxi, und Zirngast ist genervt, weil Kayserilioğlu verschlafen hat. Sie wollen zum Bahnhof von Ankara, wo die pro-kurdische Oppositionspartei HDP eine Friedensdemonstration abhält. Die Demo fordert ein Ende des Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der verbotenen Kurdenorganisation PKK. ›Um 10:00 oder um 10:01 Uhr kamen wir an, sind gerannt, weil wir zu spät waren‹, erinnert sich Kayserilioğlu. Um 10:03 Uhr sprengen sich 150 Meter weiter vorne zwei Selbstmordattentäter des Islamischen Staates in die Luft. Knapp hundert Menschen sterben. Es ist der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Türkei. Seit damals, so Kayserilioğlu, sei Zirngast nie wieder wütend gewesen, wenn sie irgendwohin zu spät gekommen seien. Damals hätten sie sich wechselseitig versprochen, füreinander einzustehen.

Und genau das tut Kayserilioğlu später. Er steht auf einer Bühne im Wiener Schauspielhaus, ein Mikrofon in der Hand und einen roten #FreeMaxZirngast-Sticker auf der Brust. Es ist der 16. Dezember 2018, und etwa 50 Leute sind zu seiner Solidaritätsveranstaltung inklusive Podiumsdiskussion gekommen. Auf der Bühne sitzt auch Zirngasts Vater und liest aus seinem Tagebuch vor: ›Tausende Tränen. So viel kann ein Mensch gar nicht weinen. So vieles erinnert mich an dich, mahnt mich, den Kampf nicht aufzugeben. Wir lieben dich, was auch immer dir vorgeworfen wird.‹ Bevor der Vater die Bühne verlässt und sich zurück ins Publikum setzt, sagt er einen letzten Satz ins Mikrofon: ›Wenn du wieder draußen bist, werden wir nie auf alle jene vergessen, die noch drinnen sind.‹

Zu diesem Zeitpunkt sitzt Max Zirngast bereits seit drei Monaten im Gefängnis. Er schreibt seitenlange Briefe aus der Haft: ›Ich stehe zwischen 6:30 und 7:00 Uhr auf. Mein Zimmer ähnelt einer Maisonette – oben die Betten, unten Toilette, minikleine Küche, Tisch, Stühle, ein etwa 60 Quadratmeter großer Hof.‹ Dazwischen stehen politische Nachrichten: ›Ich sitze hier, weil ich mich für eine demokratische Republik eingesetzt habe.‹ Zirngast setzt sich ein Ziel: Er will die Zeit im Gefängnis sinnvoll nutzen. Also joggt Zirngast im Hof, liest türkische Geschichtsbücher und Romane und macht Ausdauertraining mit fünf Liter fassenden Wasserflaschen. Wenn ihn seine Eltern besuchen wollen, müssen sie durch vier strenge Sicherheitskontrollen, bei denen ihre Iris gescannt und ihre Schuhe durchsucht werden. ›Das Gefängnisareal‹, sagt Barbara Zirngast, ›kann man sich wie eine Kleinstadt vorstellen, in der Shuttlebusse herumfahren.‹ Bei einem der ersten Besuche sieht sie ihren Sohn nur hinter einer Glasscheibe. ›Wir hatten beide einen Telefonhörer in der Hand, haben uns angesehen und zu lachen begonnen, weil uns das alles so unwirklich vorgekommen ist.‹

Zu diesem Zeitpunkt weiß niemand, was Max Zirngast vorgeworfen wird und wie lange er noch im Gefängnis bleiben muss. Seine Solidaritätskampagne glaubt, dass es mehr öffentlichen Druck brauche. Der ORF fragt Barbara Zirngast um ein Interview an, aber sie ruft nicht zurück, weil ihr das Außenministerium davon abgeraten hat. Die stille Diplomatie sei im Gange, beruhigt man sie. Am 27. September – Max sitzt seit einer Woche in Haft – trifft Bundespräsident Alexander Van der Bellen Präsident Erdoğan am Rande der UNO-Vollversammlung in New York. Am nächsten Tag schreibt der österreichische Konsul an Barbara Zirngast: ›Ich darf zu Ihrem Sohn! Was wollen Sie ihm sagen?‹ Vier Tage später, am 31. Oktober, sitzt Barbara Zirngast Außenministerin Karin Kneissl in Wien gegenüber und hört sie sagen: ›Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um Ihren Sohn freizubekommen.‹ In der Öffentlichkeit sagt Kneissl: ›Wir fordern einen fairen Prozess für Max Zirngast.‹

10. Jänner 2019, eine Anwaltskanzlei am Atatürk-Boulevard in Ankara

›Ich weiß nicht, woher die österreichische Außenministerin die Idee hat, Max könnte einen fairen Prozess bekommen. So etwas gibt es in der Türkei nicht mehr‹, sagt Murat Yılmaz, 40. Er sitzt in einer holzvertäfelten Kanzlei und alles an ihm wirkt aufgeräumt – vom blütenweißen Hemd bis zum maßgeschneiderten Sakko. Der Schreibtisch glänzt, als hätte er ihn poliert. An der Wand hängt ein eingerahmtes Diplom. Seit 15 Jahren ist Yılmaz als Anwalt tätig. In dieser Zeit hat er unzählige Oppositionelle vertreten. Studenten, die bei Demonstrationen festgenommen wurden. Abgeordnete, die den Präsidenten beleidigt haben sollen. Einen Fall wie Zirngast hatte er noch nie. ›Erstens, weil Max mein erster Ausländer ist‹, sagt er, ›und zweitens, weil meinem Mandanten vorgeworfen wird, Teil einer Terrororganisation zu sein, die nicht existiert.‹

Zirngast hat laufend publiziert. In seiner Anklageschrift werden ihm aber nur zwei Texte zur Last gelegt. Ein englischsprachiger Text mit dem Titel ›Erdoğans blutiger Schachzug‹, in dem es um einen IS-Anschlag in der Stadt Suruç geht. Und ein Beitrag im Sammelwerk ›Kampf um Kobanê‹, für das Zirngast und zwei weitere Autoren ein Kapitel über ›die Türkei am Scheideweg‹ verfasst haben. Zentral in der 123 Seiten langen Anklageschrift ist aber etwas anderes, nämlich eine Organisation namens Toplumsal Özgürlük – eine legale, linkssozialistische Bewegung, für deren Zeitung Zirngast geschrieben hat und mit deren Mitgliedern er befreundet ist. Toplumsal Özgürlük bedeutet auf Deutsch: Soziale Freiheit. Die Plattform setzt sich, so erzählen es Mitglieder, für Minderheiten ein – für Frauen, für Kurden, für Arbeiter, für Schwule und Lesben, für Alewiten, für Linke. Der deutsche Politikwissenschaftler Ismail Küpeli schätzt die Sympathisantenzahl der Bewegung auf ›einige Tausend‹ und erklärt, dass sich Toplumsal Özgürlük auf einen marxistischen Theoretiker namens Hikmet Kıvılcımlı bezieht, der in den 70er-­Jahren im Belgrader Exil verstorben ist.

Toplumsal Özgürlük ist nicht verboten. Es gibt ein Büro in Istanbul, eine Zeitung, eine Facebook-Seite mit 8.000 Likes. Max Zirngast wird zur Last gelegt, dass er mit Toplumsal-Özgürlük-Sympathisanten auf feministische Demonstrationen gegangen ist, dass er mit ihnen Philosophie- und Englischkurse organisiert und Mitglieder in Cafés oder Gewerkschaftsbüros getroffen hat. Warum denkt der türkische Staat, dass solche Aktivitäten gefährlich sind?

Vielleicht, weil Toplumsal Özgürlük eine Partei werden wollte. Sie sind klein, und ihnen fehlt das Geld für ein richtiges Büro. Aber 2016 versuchen sie es trotzdem.Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die Türkei mitten im Ausnahmezustand, nachdem ein Putschversuch im Juli 2016 gescheitert ist. Der Präsident kann per Dekret regieren. 130.000 Staatsbedienstete werden entlassen, darunter 4.000 Richter und Staatsanwälte. Zehntausende werden ins Gefängnis gesteckt – Menschenrechtler, Jour­nalisten und Akademiker. Die Türkei wandelt sich zum weltweit größten Gefängnis für Journalisten. Warum bleibt Max Zirngast damals dort? Sein bester Freund Alp sagt: ›Es gibt Leute, deren Gerechtigkeitssinn so stark ausgeprägt ist, dass sie Widerstand leisten wollen.‹ Schon bald geht der Staat auch gegen Toplumsal Özgürlük vor.Wenige Wochen vor Zirngasts Verhaftung wird der kleine Vereinsraum, in dem die Gruppe ihr Büro angemeldet hat, polizeilich geschlossen. Es ist anzunehmen, dass Zirngast so ins Visier der Justiz gerät.

16. Jänner 2019, ein Café im Kadıköy-Viertel in Istanbul

Perihan Koca, 30, sitzt in einem kleinen Café in Istanbul und trinkt Tee. Das Marmarameer ist zehn Gehminuten entfernt. Dort kreisen Möwen über Fähren, die von der asiatischen auf die europäische Seite hinüberfahren, ins Zentrum von Istanbul, wo der Gezi-Park liegt, in dem 2013 eine der größten Protestbewegungen der jüngeren türkischen Geschichte ihren Anfang nahm. Dreieinhalb Millionen Menschen gingen im ganzen Land gegen die islamisch-konservative AKP auf die Straße. Gezi politisierte eine Generation. Menschen wie Max Zirngast, der zu diesem Zeitpunkt in Wien lebt und viele türkischstämmige Freunde hat. Menschen wie Perihan Koca, die gebürtige Türkin ist und sich bei Toplumsal Özgürlük engagiert. Auf die Frage, was die Bewegung will, sagt sie: ›Wir wollen eine demokratische Verfassung. Wir wollen kein Präsidialsystem. Wir wollen eine Partei werden.‹ Und auf die Frage, ob es in der Türkei verboten sei, Sozialist zu sein, sagt sie: ›Eigentlich ist es legal, aber sobald du es sagst, wird dich der Staat mit Terrororganisationen in Verbindung bringen.‹

79 Beweismittel werden in Zirngasts Wohnung konfisziert. Darunter ein Comic von Karl Marx.

So steht es auch in der Anklageschrift, die am 26. Dezember aus dem Drucker von Murat Yılmaz herausrattert. 123 Seiten, die der Anwalt als ›konstruiert‹ bezeichnet. Zirngast wird vorgeworfen, auf Veranstaltungen von Toplumsal Özgürlük Kader für den bewaffneten Kampf rekrutiert zu haben. Weil Toplumsal Özgürlük aber bis zum heutigen Tage legal ist und demnach keine Terror­organisation sein kann, greift der Staat auf eine andere Gruppe zurück, die sich TKP/K nennt. Das Kürzel steht für: Kommunistische Partei der Türkei/Funke. Und hier muss man wieder zu Murat Yılmaz zurückkehren, der sagt: ›Die TKP/K gibt es nicht mehr. Sie hat 1995 aufgehört zu existieren.‹ Ein Beschluss des 4. Gerichts für Schwerverbrechen in Adana scheint dem Anwalt recht zu geben. Darin heißt es, dass für eine Organisationsstruktur der TKP/K keine Beweise vorgelegt werden konnten. Das würde bedeuten, dass Zirngast angeklagt wird, Teil einer Gruppierung zu sein, die gar nicht existiert.

79 Beweismittel wurden in Max Zirngasts Wohnung konfisziert, darunter die Bücher von Hikmet Kıvılcımlı, jenem Marxisten, über den er ein Referat an der Universität gehalten hat. Aber auch feministische Zeitungen und ein Comic über Karl Marx. In der Anklage wirft man Zirngast auch vor, Fotos von kurdischen Widerstandskämpfern auf dem Smartphone gespeichert zu haben. Zum Beispiel von Kader Ortakaya, die 2014 im Alter von 28 Jahren an der syrischen Grenze von türkischen Soldaten getötet wurde. Zirngast sagt, als Wissenschaftler, der sich mit der kurdischen Frage beschäftigt, sei es bei Recherchen unvermeidbar, auf solche Bilder zu stoßen. ›Angesichts der kargen Beweislage hätte man Max nie festnehmen oder inhaftieren dürfen‹, folgert sein Anwalt.

11. Jänner 2019, Zirngasts Wohnung in Ankara

›Max, wir haben Angst, dass dir jedes Zitat angelastet wird‹, sagt Barbara Zirngast zu ihrem Sohn. Die Familie sitzt beim Abendessen. Es gibt Kichererbsen, Salat und Linsensuppe. Am Tisch steht ein Tablet, und Barbara Zirngast scrollt sich durch einen Artikel der Tageszeitung Die Presse, in dem ihr Sohn mit den Worten: ›Es ist wichtig, nicht den Mund zu halten‹ zitiert wird. FM4 hat gerade für ein Interview angefragt. ›Nicht schon wieder eines‹, sagen die Eltern. Auch das Außenministerium rät zu Verschwiegenheit. ›Jedes Schrifterl, ein Gifterl‹, schreibt ein Gesandter der Botschaft in einem E-Mail an sie. Max Zirngast findet, dass Schweigen keine Lösung ist. Spätestens hier tut sich eine Konfliktlinie auf. Sie läuft über den Küchentisch, an dem die Familie Zirngast sitzt, ebenso wie durch politische Parteien. Die einen sagen, das Außenministerium habe unprofessionell reagiert, weil es sich öffentlich nie zu hundert Prozent hinter Zirngast gestellt hat. Das Außenministerium weist das zurück, ebenso Zirngasts Eltern, die betonen, nie im Stich gelassen worden zu sein.

Was bleibt, sind eine Reihe von Ungereimtheiten und Fragen. Warum fordert die Außenministerin einen ›fairen Prozess‹, obwohl Experten kritisieren, dass es einen solchen derzeit in der Türkei nicht geben kann? Friedrich Forsthuber, Präsident des Wiener Landesgerichtes für Strafsachen sagt: ›Die Türkei ist in ein Stadium eingetreten, in dem die Unabhängigkeit der Rechtsprechung völlig beseitigt wurde.‹ Berivan Aslan, ehemalige Nationalratsabgeordnete der Grünen, kritisiert, dass das Außenministerium unter Karin Kneissl einen nie dagewesenen ›Kuschelkurs‹ mit der Türkei fahre: ›Ein linker Journalist ist für diese Regierung nicht so wichtig, als dass sie einen Wickel riskiert.‹ Alma Zadić von der Liste JETZT sieht das anders. Im Oktober habe die Außenministerin im außenpolitischen Ausschuss des Parlaments betont, der Fall Zirngast sei bei diversen politischen Treffen angesprochen worden. ›Dass Zirngast zu Weihnachten freigekommen ist, hat sicher auch mit diplomatischen Bemühungen zu tun‹, sagt Zadić.

Offen bleibt dennoch, warum die österreichische Botschafterin in Ankara, Ulrike Tilly, gegenüber Zirngasts Eltern betont hat, dass sie nicht für ihren Sohn zuständig ist, da er kein politischer Fall sei? ›Eine Botschafterin, die nicht für einen inhaftierten Journalisten zuständig sein will, ist deplatziert‹, sagt der EU-Abgeordnete Michel Reimon dazu.

Einerseits, so erzählt es Barbara Zirngast, stand Tilly am 24. Dezember stundenlang neben ihr, um auf die Freilassung von Max zu warten. Andererseits, so erzählt es Max Zirngast, habe ihn immer nur der Konsul, aber nie die Botschafterin im Gefängnis besucht. Man kann das als Arbeitsteilung sehen. Oder als Signal, Zirngast um keinen Preis zum Politikum zu machen. ›Ich habe der Botschaft gesagt, dass der österreichische Staat Druck auf die Türkei ausüben soll. Aber sie haben entschieden, es abkühlen zu lassen. Sie wollten diplomatischen Druck, keinen politischen Druck‹, sagt Zirngasts Anwalt.

Fakt ist, dass Deutschland bei der Inhaftierung der Journalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu einen härteren Kurs gefahren ist. Das Außenamt in Berlin sprach nicht von Konsularfällen, sondern von politischen Inhaftierten. Der Botschafter besuchte die inhaftierten Journalisten im Gefängnis. ›Zirngast ist eine Büchse der Pandora, die niemand in der Regierung öffnen will‹, sagt Berivan Aslan. ›Wenn die FPÖ jetzt in seinem Namen Pressefreiheit fordert, sagen die Leute: Ausgerechnet ihr, die ihr sonst lautstark Lügenpresse ruft?‹

Eine Wohnung in der Innenstadt von Ankara, 14. Jänner 2019

Zirngast setzt die Katze auf seinen Schoß und krault sie hinter den Ohren. Er sitzt in der Dachgeschoßwohnung von Freunden und trinkt Kaffee. Man sieht über die Dächer von Ankara. Er möchte jetzt schöne Dinge machen, nach der Zeit im Gefängnis. Zum Beispiel endlich Pflanzen für sein Wohnzimmer und den Garten kaufen. Im Frühling wird er seine wichtigsten Texte als Buch veröffentlichen. Der Titel – ›Die Türkei am Scheideweg‹ – sagt mehr über Zirngast aus, als man denkt. Während andere Betroffene ihre Memoiren aufschreiben, macht er weiter. Er versucht den Staat, in dem er lebt, zu verstehen. Max Zirngast geht zur Türe und bindet sich die Schuhe zu. Er muss auf die Polizeistation. Dort wird er ein Dokument unterschreiben. Wie an jedem Montag bis zum 11. April, dem Tag des Prozessbeginns. Um zu beweisen, dass er noch da ist. •