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›Wir fressen uns dem Ersticken entgegen‹

Wie mich der Historiker Philipp Blom enttäuschte.

DATUM Ausgabe September 2018

Philipp Blom betritt das Café Korb und enttäuscht mich. Wir wollten spazieren gehen. Nun steht er da: vollbepackt mit Ein­kaufssackerln und einem Geigenkoffer um die Schulter. Draußen hat es 37 Grad. Also gut, kein Spaziergang. Dann eben Gspritzte bestellen und den Luftzug herbeisehnen.

Wir fressen uns dem Ersticken entgegen, mit diesem Satz sorgte der Historiker und Schrift­steller in diesem Sommer für Aufmerksamkeit. Er sprach ihn als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele, warf ihn der Elite vor die Füße. Wir seien letztlich nicht viel weiter als Hefepilz, der sich explosiv vermehrt, indem er Zucker frisst, immer ­weiter, unersättlich, bis alle Ressourcen auf­gebraucht sind und er an seinen eigenen Aus­scheidungen erstickt und verhungert.

Wenn Blom so etwas ausspricht, klingt es feiner, als es auf Papier aussieht. Seine sorgfältige Sprache und die weiche Stimme sind Markenzeichen. In Hamburg geboren, studierte er in ­Oxford und lebt nun in Wien. ­Warum eigentlich? Weil es die schönste Stadt der Welt ist, nicht wahr? Weil uns ­Paris zu teuer war. Das sagt er einfach so. Die nächste Enttäuschung. Wien hat allerdings meine schlimmsten Erwartungen nicht erfüllt. Na, immerhin.

Die Geige, weshalb die Geige? Das ist die Hauptdarstellerin meines nächsten Buches. Er erzählt, wie sie ihm vor Jahren in die Hände fiel, wie ihn ihr Klang und ihre Geschichte nicht mehr losließen. ›Eine italienische Reise‹ wird das Buch heißen und es wird die Geschichte eines anonymen Geigenbauers aus dem Allgäu erzählen, der um 1700 durch ­Europa reist. Es wird aber auch meine eigene Spurensuche beinhalten – insgesamt ein selt­sames Buch. Anhand dieses Instruments, das süddeutsche und venezianische Techniken vereint und hier neben uns auf der ausgebleichten Bank liegt, erforscht und erzählt Blom europäische Geschichte. In zehn Tagen will der Lektor das Manuskript auf seinem Tisch. Nur weiß ich noch nicht, wie die Geschichte zu Ende gehen soll.

Wir reden über Handwerk und Musik, über den Zauber der steten methodischen Bemühung, etwas zu schaffen, das eigentlich viel zu schwer ist. Blom stammt aus einer Musiker­familie, wollte professioneller Geiger werden. Bis er mit 16 Jahren das Konzert eines Gleichaltrigen gehört hat. Ich wusste: Niemals werde ich so gut sein. Egal, wieviel ich übe. Eine Kränkung? Ja, natürlich! Ich teile einen naiven Gedanken mit ihm: Würde jeder Mensch ein Musikinstrument spielen, wäre die Welt dann nicht eine bessere? Ich muss Sie enttäuschen. Schon wieder. Ich bin im Umfeld von Musikern aufgewachsen, und Sie glauben nicht, wie neurotisch und widerlich die sein können.

Mich interessiert, wofür unsere Zeit dereinst als signifikant gelten wird. Blom schmun­zelt milde, weil Historiker diese halb­origi­nelle Frage wohl oft gestellt be­kommen, be­ant­wor­tet sie dennoch: Die Erderwärmung und wie wir nicht darauf reagieren. Dann erzählt er von einem Beamten der niederländischen Küstenwache, der ihn nach einem Vortrag über den Klimawandel ansprach und meinte, alle Experten seien sich einig, dass die Deiche erhöht werden müssten – nur wisse man nicht, ob um 30 Zentimeter oder um sechs Meter.

Diese Ratlosigkeit sei der wahre Grund für unsere Lähmung. Wenn wir uns einig wären, dass wir unsere spirituellen, sozialen und wirtschaftlichen Deiche um einen Meter erhöhen müssen, dann würden wir das ziemlich sicher schaffen. Aber wir sind uns nicht einig. Spaziergang wird das keiner mehr.