Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
machen wir es kurz, machen wir es schmerzlos: Der Sommer war sehr schön und jetzt ist er vorüber.
Ich hoffe, Sie haben ihn genutzt, um dem schwindelerregenden Alltag aus Kurzmeldungen und Tweets, Top-News und Postings zu entsteigen. Um barfuß über Wiesen zu wandeln und nackt im Meer zu plantschen, um das eigene Leben aus einer anderen Perspektive und das Leben anderer aus der eigenen zu betrachten. Und natürlich, um zu verreisen, nach Kolumbien, Belarus oder einfach tief hinein ins Österreichische.
Das alles haben wir getan. Um Energie zu tanken. Um zu verstehen, was weit draußen und tief drinnen im Land und in seinen Köpfen so vor sich geht. Und um uns und Sie auf das vorzubereiten, was nun auf uns zukommt: den Wahlkampf, zum Beispiel.
In den Wochen bis zum 15. Oktober werden rituell auf allen Kanälen Meinungsforscher auftauchen, die uns erklären, was warum wie ist und wahrscheinlich sein wird. In der vorliegenden Titelgeschichte erzählt unser Autor Jonas Vogt, wie das wissenschaftliche Orakelgeschäft aus Meinungsforschung, Politik und Medien funktioniert – oder allzu häufig nicht funktioniert. Warum der Ruf der Demoskopie beschädigt ist, das Geschäft aber dennoch floriert; und warum Politiker wie Kanzler Christian Kern Umfragen auf der Bühne als Horoskope abtun, und hinter der Bühne darauf setzen.
Unsere Sommerreisen führten uns nach Belarus, genauer: ins Dorf Maly Trostinec bei Minsk. Dort hat das NS-Regime mehr Juden aus Österreich ermordet als irgendwo sonst. Unsere Autorin Simone Brunner hat Nachkommen an den Ort eines unvergesslichen Verbrechens begleitet, an den kein Denkmal und kein Schulbuch erinnern.
Buenaventura, die gefährlichste Stadt Kolumbiens, hat unser Autor Stefan Krauth besucht, um zu verstehen, was das für ein regelrechter Krieg ist zwischen Reedern, Paramilitärs und Gewerkschaftern, dem Jahr für Jahr hunderte Menschen zum Opfer fallen.
Eine besondere Reise haben wir durch das Burgtheater unternommen, wo wir die Sommernachtsträume des Regisseurs Leander Haußmann und seines Ensembles aufgezeichnet haben.
Im Steirischen wiederum war unser Autor Adrian Engel mit jungen Menschen unterwegs, die glauben, dass sie mithilfe von sogenanntem Multi-Level-Marketing für wenig Arbeit sehr viel Geld machen werden.
Und tief ins Niederösterreichische hinein bin ich selbst gereist, um das Leben einer pflegebedürftigen und sehr besonderen Frau für ein Buch zu Papier zu bringen. Es trägt den Titel ›Hochbetagt‹ und versammelt die Texte so spannender Autorinnen wie Christina Pausackl und Elisabeth Gamperl, Franziska Tschinderle und Saskia Jungnikl. Diese Reise, sie werden es an den Fotos sehen, ist allerdings schon wieder ein halbes Jahr her.Schnee lag auf den Wipfeln, es roch nach Lebkuchen und Kerzen. Der Sommer war damals Erinnerung und Versprechen. So wie jetzt.
Alles hat seine Zeit. Und jede Zeit hat ihre Seiten.
In diesem Sinn darf ich Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre Ihrer Seiten der Zeit wünschen,
Ihr Stefan Apfl
stefan.apfl@datum.at
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