›Wir werden keine Einheitspartei‹

Altpolitiker Franz Fischler und Neo-Politikerin Sibylle Hamann sprechen über eine Regierung der Widersprüche, schwarze Kunstprodukte und die Gefahren grüner Authentizität.

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Fotografie:
Florian Rainer
DATUM Ausgabe Februar 2020

Ein Tag Ende Jänner. Es ist kalt, die Gäste sind pünktlich. Am Tisch stehen Obst, Croissants und Kaffee bereit. Hamann und Fischler nehmen Tee, sonst nichts. 

Heute vor einem Jahr diskutierte das Land über einen Ausspruch des damaligen Innenministers Herbert Kickl: Das Recht hat der Politik zu folgen und nicht die Politik dem Recht.‹ Wie blicken Sie zurück auf diese schwarz-blaue Zeit?

Franz Fischler: Vergleiche ich diese Zeit mit heute, muss ich zunächst feststellen, dass sie Gott sei Dank vorüber ist. In vielen europäischen Ländern wartet man, wie es jetzt bei uns weitergeht. Die neue Regierung ist für das österreichische Innenleben wie auch für unser Bild nach außen ein riesiger Fortschritt.

Sibylle Hamann: Für mich war das eine Zeit der Verzweiflung und der Depression. Es war wie ein böser Traum, aus dem man erst durch Ibiza wieder aufgewacht ist. Diese Erfahrung der Ohnmacht war auch die Wurzel dafür, dass ich mir gedacht habe: Jetzt muss ich in die Politik gehen und meinen Teil dazu beitragen, dass es anders wird.

Die Gesprächsverweigerung mit Opposition und Zivilgesellschaft, die Migrationsfeindlichkeit, die Beschädigung der Institutionen (Stichwort BVT), das Salonfähigmachen von Rechtsextremismus: Lässt sich der Schaden der Regierung Kurz I wieder beseitigen?

Hamann: Ich glaube, wir haben rechtzeitig die Kurve gekratzt. 

Fischler: Dadurch, dass dieses Ding nach relativ kurzer Zeit zu Ende war, hat das keine unumkehrbaren Schäden hinterlassen. Im Gegenteil. Ibiza hat die Bevölkerung aufgeweckt. Die Leute sind draufgekommen, dass sie sich lange Zeit haben einlullen lassen.

Was war Ibiza? Ein schwarzer Schwan? Also ein Ereignis, das niemand vorhersehen konnte? Oder war es die logische Konsequenz angesichts der handelnden Personen?

Fischler: Also Logik sehe ich da keine. Die Herrschaften stehen außerhalb der Logik. An Ibiza sah man gut, welche Charaktere das sind und wie sie mental ticken. Eigentlich sind ihnen alle Werte der Demokratie völlig wurscht. Deshalb glauben sie auch, dass sie die Republik übernehmen könnten. 

Hamann: Wenn du etwas machst und du merkst, es funktioniert, dann willst du immer noch mehr und immer noch einen Schritt weitergehen. In der Politik nennt man das Machtrausch. Insofern war Ibiza logisch. Gleichzeitig war Ibiza ein einmaliges Glück. Wir hätten das mit unseren Mitteln, sei es publizistisch oder aufklärerisch, offenbar nicht zustande gebracht. 

Wann hatten Sie beide das erste Mal das Gefühl: Schwarz-Grün, das kann etwas werden.

Fischler: Ich gebe zu, ich war lange Zeit skeptisch. Aufgrund der Erfahrung aus dem ersten Versuch zwischen Schüssel und Van der Bellen habe ich befürchtet, dass die sogenannten typischen Wiener Grünen …

Hamann: … die es nicht gibt …

Fischler: Na ja, zu Van der Bellens Zeiten als Parteichef hat es die schon gegeben.

Hamann: Ein bisschen Klischee ist da auch dabei. 

Fischler: Das mag sein. Zu Van der Bellens Zeit waren die Wiener Grünen im Vergleich zu den Bundesländer-Grünen jedenfalls viel stärker. Wo die Grünen weniger ideologisch auftreten, haben sie mehr Erfolg. Das ist eine Tatsache. In der Mitte der Verhandlungen, es muss im Dezember gewesen sein, hatte ich schließlich den Eindruck, dass der Kogler ein starker Bursche ist, der seine Standpunkte auch parteiintern umsetzen kann. Und dass sich andererseits auch die Kurz-Leute bewegen. Anfangs der Verhandlungen war nämlich der Eindruck entstanden, dass der Kurz dann eine Koalition will, wenn die Grünen hundert Prozent von dem machen, was er sagt. 

Hamann: Ich erinnere mich gut an den Wahlnachmittag. Da bin ich in einen Raum reingekommen, wo lauter Grüne saßen, die das ungefähre Ergebnis schon kannten. Und ich habe mir gedacht: Warum ist es hier so still? Die haben schon gewusst, dass sich Schwarz-Grün vermutlich ausgeht und haben sich gefragt: Was tun wir jetzt? Die haben die Phase des Jubelns ausgelassen und sozusagen gleich das Problem gesehen! Ich hab mir damals schon gedacht, das könnte sich inhaltlich ausgehen. Ich dachte: Kurz ist ein wendiger Mensch, kein Ideologe. 

Und wäre eine schwarz-blaue Koalition abermals gescheitert, hätte Kurz sein politisches Kapital damit verspielt.

Fischler: Ja, das wäre das Ende von Kurz gewesen.

Hamann: Es lag ja auch ein klarer Wählerauftrag am Tisch. 

Fischler: In Österreich ist das nie so richtig rübergekommen, wie negativ man diese Regierung in Europa gesehen hat. Wäre es abermals zu einer Koalition mit der FPÖ gekommen, wäre Österreich in der europäischen Familie zum Außenseiter geworden.

Schwarz-Grün. Was ist das? Was wird das? Welche Hoffnungen, welche Sorgen und Perspektiven verbinden Sie damit?

Hamann: Meine Hoffnung ist, dass wir diese enorm tiefe Spaltung der Gesellschaft überbrücken. Wir hatten am Höhepunkt der Flüchtlingskrise ein Ausmaß der Spaltung und der Sprachlosigkeit erreicht, wo man einander überhaupt nicht mehr verstanden hat. Wo Menschen Familienfeiern aus dem Weg gegangen sind, weil man gewusst hat, es wird nur gestritten bis aufs Blut. Durch die Verhandlungen mussten wir alle die jeweils andere Perspektive zumindest im Kopf durchdenken, um sie nachvollziehen zu können. Da ist bei uns, die da involviert waren, viel passiert. Vielleicht wiederholt sich das nun breiter in der Gesellschaft.

Fischler: Mir ist es wichtig zu unterstreichen, dass es überhaupt keinen Sinn macht, sondern eher kontraproduktiv ist, dass mit der Zeit eine schwarz-grü-
ne Kreuzung entsteht, dass da ein Hybrid entsteht, der dann in Harmonie regiert. 

Hamann: Das wird nicht so sein. 

Fischler: Und das ist auch nicht sinnvoll. Jeder würde unterschreiben, dass wir heute in einer komplexeren Welt leben als früher. Jeder würde unterschreiben, dass wir aus unserem Silodenken heraus müssen. Die Politik ist längst nicht mehr in der Lage, alleine die wirklich gute Entscheidung zu fällen. Ich brauche heute für die großen Fragen die Wissenschaft dabei, ich brauche die Wirtschaft dabei, ich brauche die Zivilgesellschaft dabei, wenn etwas Gescheites rauskommen soll. Wenn also hier zwei Kräfte, die von ihrer Natur her völlig unterschiedlich sind, versuchen gemeinsam Lösungen auf den Tisch zu bringen, dann kann das bereichernd sein. Deshalb habe ich die Hoffnung, dass diese Koalition bessere Lösungen zustande bringt, als das früher der Fall war. 

Der große Topos dahinter ist die Zusammenführung von Ökologie und Ökonomie. 

Fischler: Richtig. Wobei … 

Hamann: … die Ökonomie nicht die ÖVP ist und die Ökologie nicht wir Grünen sind.

Fischler: Erstens das. Und zweitens muss man bei der Ökonomie auch immer die soziale Dimension berücksichtigen. Eine der größten Herausforderungen in den nächsten Jahren ist, dass die Ungleichheit in Europa, aber auch in Österreich nicht noch größer, sondern kleiner wird. Diese soziale Verantwortung ist in der letzten Koalition unterentwickelt gewesen. 

Herr Fischler, Sie haben Kurz einmal als das größte politische Talent seit Kreisky bezeichnet. Mit Blick auf die Regierung Kurz I entsteht der Eindruck, dass er ein guter Parteichef ist, aber kein guter Regierungschef. Ist es möglich, dass Kurz kein Talent als Staatsmann besitzt?

Fischler: Man wird nicht in zwei Jahren zum Staatsmann. Sehen Sie sich große Staatsmänner auf euro­päischer Ebene an, zum Beispiel den Jacques Delors. Der hat acht Jahre ge­-
braucht, bis er ein Staatsmann war. 

Hamann: Man muss vielleicht auch mal gescheitert sein, um zu wachsen.

Fischler: Das ist richtig.

Frau Hamann, nach der Angelobung von Schwarz-Blau ist umgehend brüderliche Harmonie ausgebrochen …

Hamann: … das ist diesmal definitiv nicht der Fall.

Zuerst stellt sich Kanzler Kurz demonstrativ nicht vor Justizministerin Alma Zadić. Und seither rempelt die ÖVP die Grünen alle paar Tage ohne Not an – Dieselprivileg, Asylzentren, Kopftuchverbot für Lehrer.

Hamann: Das nehmen wir natürlich auch so war.

Wie erklären Sie sich diese Strategie der Provokation? 

Hamann: Wahrscheinlich ist das der taktische Versuch, uns thematisch auf ihr Spielfeld zu holen. Und wahrscheinlich ist es nicht sinnvoll, reflexartig auf dieses Spielfeld zu wechseln. Das wird sich wahrscheinlich und hoffentlich ein bisschen einspielen und ändern.

Fischler: Ich glaube schon, dass sich das ändert. 

Hamann: Anders als ÖVP und FPÖ sind wir beide sehr unterschiedlich. Das beginnt ja schon bei den beiden Charakteren Kurz und Kogler. Bei Kurz ist alles von vorne bis hinten durchgetaktet. Er bringt bei einem Auftritt alle Begriffe genau so unter, wie er sich das vornimmt. Und nach ihm fängt Kogler einfach irgendwie zu reden an. Man sieht, wie sehr es den Kurz irritiert zu merken, dass das auch anders geht. Plötzlich wirkt der Ältere vom Alter her viel jünger und der Jüngere älter. Dass da Stilbrüche stattfinden und Irritationen, das tut unseren Sehgewohnheiten gut. Da mischen sich gerade einige Sachen neu. Wir werden uns auch daran gewöhnen, Argumente unterschiedlich zu hören. 

Was meinen Sie damit?

Hamann: Im Moment erzählen ÖVP und Grüne die gleichen Punkte aus dem Regierungsprogramm auf verschiedene Art und Weise. Nehmen Sie die Arbeitsmarktgeschichte und die Frage, wie ich Arbeitslose aus Ostösterreich zu Arbeitsplätzen in den Westen bringe. Ich kann von Strafen sprechen, von Sanktionen, von Leistungskürzungen, wie die ÖVP das tut. Oder ich kann von Anreizen sprechen, von Ermutigung oder vom Versuch, Leute und Jobs zusammenzubringen, die zusammenpassen.

Bisher sagt die schwarz-grüne Regierung ersteres.

Hamann: Nein, da haben wir als Grüne schon einen eigenen Text. Man muss uns nur zuhören. Nehmen Sie das leidige Thema Kopftuchverbot. Wir Grüne haben hier eine emanzipatorische Erzählung, die von Freiheit handelt, von Selbstbestimmung, von Förderung, von feministischer Mädchen- und Burschenarbeit. Die ÖVP-Erzählung von Sanktionen, Strafen und Verboten ist eine ganz andere.

Ist das der Dreh an dieser schwarz-grünen Koalition, dass es zu vielen Themen zwei widerstreitende Erzählungen geben kann, geben soll?

Hamann: Ich glaube, ja. Ich halte das grundsätzlich für richtig. Wir werden nicht verschmelzen zu einer Einheitspartei. Das wollen wir auch nicht. 

Fischler: Das ist eine der spannendsten Fragen! Erinnern wir uns an die Taktik der vorigen Regierung: Harmonie und Message Control. Ich habe einmal den Sebastian Kurz gefragt, warum er da so dran hängt. Er hat geantwortet, dass er ein weiteres Knittelfeld fürchtet. Dass nämlich in den Meinungsumfragen die Zustimmung zur FPÖ zurückgeht und dass sie dann untereinander zum Streiten anfangen, dass dann die Partei auseinanderfällt und er keinen Regierungspartner mehr hat. Das hat in seinen taktischen Überlegungen eine große Rolle gespielt. Die Situation ist jetzt völlig anders. Kurz wäre unglaubwürdig, würde er nach außen gekünstelte Harmonie spielen.

Hamann: Und wir wären auch unglaubwürdig.

Fischler: Genau. Jetzt muss man die Dinge austragen. Jetzt kann es tatsächlich zwei unterschiedliche Ge­schichten innerhalb einer Regierungskoalition geben. Es ist ja oft im Leben nicht immer alles eindeutig. Und diese Auseinandersetzung muss für die Bevölkerung nachvollziehbar bleiben. Es darf keine Auseinandersetzung sein, bei der ich nur das Negative beim anderen sehe. Es muss zum Vorschein kommen, wie man miteinander um eine Lösung ringt. Das ist auch, was Österreich jetzt braucht. 

Hamann: Das Spannende ist, dass das Gesetz oder die Maßnahme trotz dieser gegenteiligen Erzählung inhaltlich das Gleiche sein kann. 

Geben Sie uns ein Beispiel.

Hamann: Thema Bildungspflicht. Da geht es darum, dass nicht die Schulpflicht zählt, also man sitzt neun Jahre in der Schule und wird dann entlassen, egal was man kann. Bildungspflicht bedeutet, dass das Schulsystem Kinder und Jugendliche so lange behält, bis sie eine gewisse Grundkompetenz erworben haben. 

Fischler: Und das ist richtig.

Hamann: Das war an sich eine ÖVP-Forderung. Sie sprachen halt von Pflichten, Prüfungen, Leistungsnachweis. Auf grüne Art und Weise kann man es auch ganz anders erzählen: Dass nämlich unsere Gesellschaft und unser Schulsystem die verdammte Pflicht haben, kein Kind und keinen Jugendlichen einfach auszuspucken, ohne ihm Grund­-
kompetenzen beigebracht zu haben.

Zwei delikate Themen haben klubintern bereits große Diskussionen bei den Grünen ausgelöst. Sicherungshaft und Untersuchungsausschuss. 

Hamann: Das sind jetzt Fragen, die mit meinem Bereich, der Bildung, nicht viel zu tun haben. Bei der Sicherungshaft, mein Gott, das Wort beschäftigt uns jetzt seit Bestehen der Regierung, dabei ist die Sache relativ klar: Das wollte die ÖVP unbedingt drinnen haben, aus symbolischen Gründen und um ihre FPÖ-Wähler bei der Stange zu halten. Wir haben alles versucht, das Wort zu vermeiden. Es liegt jetzt an Experten und an der ÖVP zu schauen, ob man das verfassungskonform zustande bringt. Und wenn das nicht geht, dann wird es halt nicht passieren. Mehr steht darüber nicht im Regierungsprogramm.

Fischler: Und noch ist die Frage offen: Was ist da jetzt eigentlich darunter zu verstehen. Es gibt ja eine große Zahl an EU-Mitgliedsstaaten, die so etwas wie eine Sicherungshaft haben. Aber fast jeder dieser Staaten hat ein anderes Modell. Im Regierungsübereinkommen zwischen ÖVP und Grünen steht ja nur die Überschrift und sonst nichts.

Hamann: Ich bin sehr froh, dass es am Ende wesentlich bei einer Alma Zadić liegt, das zu formulieren, und nicht bei einem Herbert Kickl.

Fischler: Ich sage Ihnen auch: Wer die Verfassungskonformität nicht ernst nimmt, wird größere Probleme mit dem Bundespräsidenten bekommen. 

Wenn es um Europa geht, spricht die neue ÖVP von Migration und von Geld – also davon, dass die Migration ebenso einzudämmen ist wie der Geldfluss nach Brüssel. Herr Fischler, europapolitisch wirkt Herr Kurz im Vergleich mit Ihnen geradezu wie ein Nationalist.

Fischler: Es ist anscheinend schwierig, den Hebel umzulegen. Da müsste die ÖVP jetzt in einigen Dingen eine andere Position beziehen als noch im Wahlkampf. In der Frage der Migrationspolitik, aber auch mit dieser Ein-Prozent-Ideologie im Zusammenhang mit der künftigen Finanzierung der Europäischen Union. 

Hamann: Zu Beginn der Verhandlungen haben wir uns gedacht, das Europakapitel wird ganz leicht zu verhandeln sein. Dann hat sich herausgestellt, dass das ganz, ganz schwierig ist, weil sich da in der ÖVP eine starke Europaskepsis festgesetzt hat. Ich wüsste gerne, ob das Taktik ist oder Überzeugung.

Fischler: In Wirklichkeit ist die ÖVP in der Frage gespalten. Ich glaube, Sebastian Kurz sieht sich gewissermaßen an die Versprechen gebunden, die er im Wahlkampf gemacht hat. Es ist sehr schwer, ihn auch nur eine Spur davon abzubringen. Aber das muss er, weil ansonsten kann es nicht funktionieren. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass jetzt, vor allem auch bedingt durch den neuen Außenminister, in Sachen Engagement im Westbalkan durchaus positive Entwicklungen feststellbar sind. Das ist sicher auch ein Verdienst der Grünen.

Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union hat sich unlängst zum 25. Mal gejährt. Irgendwas ist in diesen 25 Jahren schief gegangen.

Fischler: Sobald wir bei der EU dabei waren, haben die gemeinsamen Anstrengungen der Politik relativ rasch aufgehört. Auch der Dialog mit der Bevölkerung ist schwächer geworden. Österreich ist den Erwartungen, die man sowohl in der österreichischen Bevölkerung als auch von außerhalb gehabt hat, nicht gerecht geworden. Nur Slogans sind übrig geblieben. Alle reden von Brücken bauen, aber wo bitte hat Österreich eine Brücke gebaut in den letzten 20 Jahren in Europa? Welche Länder haben wir zusammengebracht? Also da ha-
ben wir bei weitem under-
performed.

Herr Fischler, wenn ich Sie mir so anhöre, wie Sie auf Europa schauen, wie Sie auf die sozialen und ökologischen Fragen schauen, dann habe ich nicht das Gefühl, ich säße einem ÖVPler gegenüber.

Fischler: Ich bin ein freier Mensch.

Wie geht man in der heutigen ÖVP mit freien Menschen um?

Fischler: Schauen Sie, Frau Hamann und ich haben in der Ab­folge die gegenteilige Situation. Sie sind früher frei und nur sich selber verantwortlich gewesen und gehen jetzt in die Politik. Ich bin von der Politik schon längst weg und nur mir selber verantwortlich. Über meine Tätigkeiten, etwa auch als Präsident des Forum Alpbach, versuche ich, die Tiefe und die Breite der Diskussion am Leben zu erhalten. Die Verengung der öffentlichen Debatte gehört zu den großen Gefahren einer Demokratie. Denn dann häufen sich die Fehler, dann häufen sich die schlechten Lösungen. 

Frau Hamann, wir kennen einander seit langem als Journalistenkollegen. Jetzt sitzen Sie als Politikerin hier und müssen sich Fragen zur Sicherungshaft anhören. Wie ist der Umstieg? 

Hamann: Als freie Journalistin war ich eine Ich-AG. Ich war ausschließlich mir selber verantwortlich. Ich habe ja gesagt, wo ich ja sagen wollte, nein gesagt, wo ich nein sagen wollte. Auch manchmal ohne Rücksicht auf die Folgen, wenn die Pointe gut war. Jetzt bin ich gewählt. Ich bin für ein Programm gewählt. Ich bin von Leuten gewählt, die etwas von mir erwarten. Ich bin mit einem Team gewählt. Also, da fängt man natürlich schon mal zu denken an: Hey, was hat das, was ich gerade sage, für Folgen für andere? Im Job für andere verantwortlich sein, das war neu für mich, und das musste sehr schnell gehen.

Als Journalist, als Bürger wünschte ich mir, spräche ich mit einer Politikerin, ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und an Wahrheit. Ist das naiv? 

Hamann: Nein, ich spreche ja jetzt nicht die Unwahrheit. Und wenn du jetzt auch Politiker und Politikerinnen angeschaut hast in den letzten Wochen, siehst du ja zumindest einige, die so sind, wie sie sind. Die Leonore und die Alma, der Rudi und die Ulrike, die sind einfach so. Weder sind die gecoacht, noch haben die etwas auswendig gelernt, noch hat ihnen jemand aufgetragen, was sie sagen müssen. Die sind so: what you see, is what you get. 

Im Vergleich zu den genannten Personen wirken die Ministerinnen und Minister der ÖVP geradezu … 

Fischler: … wie ein Kunstprodukt.

Sind die ÖVP-Ministerinnen und -Minister einfach hoch professionell oder ist ihr auswendig gelerntes Auftreten in Form und Inhalt mitunter schon zynisch?

Fischler: An Ihrer Beobachtung ist tatsächlich etwas dran. Und ich glaube, dass die ÖVP aufpassen muss. Ein Coaching, damit jemand die Grundbegriffe kennt und weiß, wie man sich vor einer Kamera verhalten soll, ist ja notwendig in unserer Welt. Aber wenn man das übertreibt, und da ist die ÖVP gerade sehr knapp dran, dann kann das Ganze auch ungeheuer kippen. Dann wirkt das gekünstelt, und gekünstelt heißt in den Augen des Bürgers unehrlich. Da muss die ÖVP wirklich aufpassen, weil jetzt immer häufiger einer dasteht, der, könnte man vereinfacht sagen, einfach sagt, was er sich denkt, während der andere dem alten Ratschlag verpflichtet ist, dass ein Politiker sich etwas denkt, und dann sagt er was. Eine Zeit lang hat das ja ungeheuer positiv auf die Bevölkerung gewirkt. Die Art und Weise zum Beispiel, wie der Sebastian Kurz aufgetreten ist in der Öffentlichkeit. Aber jetzt ist es manchmal schon so, dass das Ganze ein bisschen zu sehr einstudiert wirkt. 

Hamann: Wobei man schon auch dazu sagen muss: Dass immer Authentizität gewünscht wird, ist natürlich auch riskant.

Fischler: Ja.

Hamann: In unserer Social-Media-Welt läuft man mit jedem Fehltritt, mit jedem blöden Satz Gefahr, dass das millionenfach wiederholt wird und viral geht.

Fischler: Sie brauchen gar nichts sagen, Sie brauchen nur einen Burger zu essen! (lacht)

Hamann: Dass man Angst davor hat, etwas falsch zu sagen, lähmt natürlich schon die Kommunikation. Man weiß in jeder Minute: Es kann alles in diesem unbarmherzigen Spiel gegen dich verwendet werden. 

Fischler: Unbarmherzig ist ein wichtiges Wort in diesem Zusammenhang. Nachsicht oder gar Dankbarkeit sind keine politischen Kategorien. Insofern haben beide Seiten ein riskantes Leben vor sich: Die einen, die jederzeit ausrutschen können, und die anderen, dass sie nicht mehr als bodenständig und geerdet gelten. 

Hamann: Meine Oma hatte ein Lieblingswort, das war: ungnädig. ›Sei nicht so ungnädig mit mir!‹, hat sie immer gesagt .. Ich hätte gerne, dass wir ein bisschen gnädiger sind miteinander. •

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